VW-Tochter Cariad: Im Schattenmodus zum autonomen Fahren

Für Stefan Sicklinger spielen Unsicherheiten beruflich eine wichtige Rolle. Je schlechter die Software für autonomes Fahren eine Situation einschätzen kann, desto eher werden die Daten an die Entwickler der VW-Tochter Cariad übermittelt. Doch die größte Unsicherheit im VW-Konzern stellt derzeit wohl die Zukunft von Cariad selbst dar.
Dem Manager-Magazin zufolge (Paywall)(öffnet im neuen Fenster) muss Vorstandschef Herbert Diess in einer für Ende Juni oder Anfang Juli 2022 anberaumten Sitzung einen genauen Plan vorlegen, wie es mit den Softwareprojekten und der neuen Firma weitergehen soll. Auch beim autonomen Fahren sind demnach Abstriche denkbar.
Der Erfolg von Cariad ist nicht nur entscheidend für die Zukunft von Diess, sondern auch für den Konzern. Schon jetzt drohen laut Manager-Magazin Ergebnisverluste in Höhe von 2,5 bis 3 Milliarden Euro, weil bei der Firmentochter Porsche geplante Modelle erst Jahre später fertig werden. Zudem könnten die Entwicklungskosten der Softwarearchitektur bis 2026 um 3,5 auf 9,1 Milliarden Euro steigen.
Eine Software für alle Modelle
Laut einer Präsentation, die Cariad in der vergangenen Woche in Ingolstadt zeigte, soll die neue Software für das Projekt Artemis und den Audi Landjet weiterhin von Mitte 2025 an zur Verfügung stehen. Die Software für die Premium Platform Electric (PPE), die erstmals im vollelektrischen Macan zum Einsatz kommen soll, ist weiterhin für Mitte 2023 avisiert. Laut Manager-Magazin soll es damit "kaum vor 2024" losgehen.
Die Entwicklung eines gemeinsamen Betriebssystems über alle VW-Marken hinweg ist in der Tat ein ehrgeiziges Projekt. Die Software bildet die Verbindung zwischen der unterschiedlichen Hardware und den ebenfalls unterschiedlichen Anwendungen in der kaum überschaubaren Modellpalette. Fahrzeuge wie der günstige Fabia von Skoda oder ein Lamborghini Aventador für mehr als 300.000 Euro würden künftig denselben Software-Stack verwenden.
Cariad testet schon mit Qualcomm-Prozessoren
Nach Einschätzung von Stefan Sicklinger führt an dieser Vereinheitlichung jedoch kein Weg vorbei. Der Maschinenbauer leitet bei Cariad das Team Big Loop and Advanced Systems, das die Softwareentwicklung beim autonomen Fahren beschleunigen soll. "Wir wollen mit der einheitlichen Software die Komplexität und die Kosten reduzieren. Die Materialeinzelkosten für die Software liegen bei null Euro. Deswegen ist es extrem sinnvoll, den Software-Stack über das Portfolio hinweg zu vereinheitlichen" , erläutert Sicklinger.
Ein weiterer Grund dafür sind die in der Branche inzwischen fast schon üblichen Software-Updates aus der Ferne (Over-the-Air/OTA). "Daher ist es notwendig, die Software über das Portfolio hinweg über die Lebenszeit der Produkte weiterzuentwickeln" , sagte Sicklinger und fügt hinzu: "Ohne eine einheitliches System könnte man die Komplexität über den Lebenszyklus ansonsten nur mit sehr viel Aufwand managen." Nach Darstellung von VW-Chef Diess geht es zudem darum, die Abhängigkeit von einem externen Anbieter zu vermeiden.













Doch VW will nicht nur ein eigenes Betriebssystem entwickeln. Cariad soll zusammen mit dem Autozulieferer Bosch das autonome Fahren nach der Automatisierungsstufe 3 zur Serienreife bringen. Auch Entwicklungsziele nach Level 4 werden geprüft. Dazu ging VW Anfang Mai 2022 eine Kooperation mit dem US-Hersteller Qualcomm ein . Obwohl die ersten Steuerungsgeräte erst Mitte des Jahrzehnts in die Serienautos kommen sollen, nutzen Sicklinger und sein Team schon die Prototypen für Testzwecke.
Noch wenig los auf dem Campus in Ingolstadt
Auf dem sogenannten In-Campus in Ingolstadt(öffnet im neuen Fenster) , einem früheren Raffineriegelände, hat Cariad bereits mehrere Gebäude bezogen. Doch die Büros wirken noch ziemlich verwaist. Das dürfte zum einen daran liegen, dass nach der Coronapandemie viele Mitarbeiter weiterhin das Homeoffice bevorzugen. Zum anderen verfügt Cariad über zahlreiche Standorte in Deutschland und der Welt. Insgesamt arbeiten bereits 5.000 Mitarbeiter für die Softwarefirma, fast 2.800 davon sind alleine auf Linkedin vernetzt.
Von diesen sind viele aus den Konzernmarken wie VW, Porsche und Audi gewechselt. Auch Sicklinger. In Branchenkreisen wird kolportiert, dass es eine Art Zweiklassengesellschaft in der Firma gibt. Die Mitarbeiter aus den Konzernmarken ließen sich den Wechsel durch entsprechende Gehaltsaufschläge honorieren. Die Gewinnung von Mitarbeitern in diesem Bereich stellt Cariad vor dieselben Probleme, die auch andere Autohersteller oder IT-Konzerne haben.
Datengetriebene Entwicklung
Sicklingers Team, dem 50 Mitarbeiter angehören, ist Teil des Projekts Ingenuity, das in verschiedene Entwicklungsbereiche aufgeteilt ist. Kern des Projektes ist das Konzept Big Loop, das laut Cariad wie in einer "großen Schleife" eine datengetriebene Softwareentwicklung zwischen Fahrzeug, Entwicklern und Cloud ermöglichen soll.
Ein Vorgehen, wie es Tesla schon seit Jahren verfolgt: Die von den Autos gesammelten Daten dienen dazu, die Software beispielsweise durch bessere Trainingsdaten für maschinelles Lernen zu verbessern. Die verbesserte Software wird Over-the-Air in die Autos eingespielt, die auf dieser Basis dann wieder neue und bessere Daten liefern.
Parallel laufende Hardware für Testzwecke
Doch das ist noch nicht alles. Cariad will die Testwagenflotte künftig mit zwei parallel arbeitenden Steuergeräten betreiben. Audi hat sich dieses von Sicklinger entwickelte Konzept sogar patentieren lassen(öffnet im neuen Fenster) . "Mit der Pioneering Fleet können wir nicht nur intelligent Daten sammeln, sondern auch den später in Serie eingesetzten sogenannten Shadow-Modus bereits erproben und anwenden" , erläutert Sicklinger und fügt hinzu: "Unsere künftigen Serienfahrzeuge werden größtenteils über eine gedoppelte Hardware verfügen: So können wir den Hardware-Zwilling als eine 'protected area' nutzen, in der wir neue Software im Shadow-Modus einspielen, testen und mit dem aktuellen System vergleichen können." Die Steuerung der Aktuatoren wie Bremsen und Lenkung übernimmt hingegen weiterhin das erste Gerät.
Cariad steht dabei vor dem Problem, das alle Entwickler autonomer Autos zur Verzweiflung bringen kann: Wie lässt sich sicherstellen, dass das Auto sich auch in Situationen richtig verhält, die nur sehr selten vorkommen und zu denen es kaum Trainingsdaten gibt?
Um die Herausforderung zu veranschaulichen, erläutert Sicklinger: " Der Komplexitätssprung, der uns mit dem autonomen Fahren erwartet, ist enorm: Das ist vergleichbar mit dem Sprung, der zwischen der Geschwindigkeit eines Usain Bolt beim 100-Meter-Lauf und der Lichtgeschwindigkeit besteht. Das ist die Größenordnung, die wir in Sachen Komplexität überwinden müssen, um von einem System mit einem Menschen als Fahrer zu einem autonomen System zu gelangen."
Algorithmus entscheidet über Datensammlung
Um überhaupt die von den Testautos generierten Daten bewältigen zu können, hat Cariad ein Konzept mit dem Namen Instinct entwickelt. Der Begriff steht in diesem Fall für In Situ Intelligent Data Collector. Der Entwickler erläutert dazu: "Das System haben wir innerhalb eines Jahres entwickelt. Es arbeitet schon innerhalb der ganzen Big-Loop-Kette. Der Algorithmus kann selbst die Entscheidung treffen, welche Daten relevant sind und für die weitere Entwicklung ausgeleitet werden sollen." Das System könne beispielsweise gezielt nach Situationen suchen, die eine sehr hohe Unsicherheit aufwiesen. Beispielsweise ob eine Ampel oder ein Schild korrekt erkannt wird.

"Auf diese Weise können wir die 108.000 Frames, die pro Kamera und pro Stunde erfasst werden, deutlich reduzieren und nur die wirklich relevanten Datensamples abspeichern. Das ist beispielsweise bei der Ampelerkennung der Fall." , sagt Sicklinger. Nur Aufnahmen mit hoher Unsicherheit würden dadurch gesichert, sonst würden sie auf dem Ringspeicher wieder gelöscht. "Das Fahrzeug entscheidet dabei, welches Datensample von Interesse ist. Wir wollen nur Daten sammeln, die wirklich einen Gewinn darstellen, um die Umfelderkennung immer weiter zu verbessern" , sagt der 38-Jährige. Laut der in Ingolstadt gezeigten Präsentation werden von den mehr als 100.000 aufgenommenen Bildern am Ende nur noch rund 10 pro Stunde hochgeladen.
Ein solches System hat natürlich auch seine Tücken.
VW setzt nicht nur auf Kameras
Denn was passiert, wenn ein neuronales Netz einer falschen Objekterkennung nur einen geringen Unsicherheitsgrad zuordnet? Dann würden die Entwickler von einem solchen blinden Fleck nichts erfahren. Solche Unsicherheiten sind am Ende wohl auch ein Grund dafür, dass VW sich im Gegensatz zu Tesla nicht nur auf Kameras verlässt, sondern auch Laserscanner und Radare einsetzen will. Denn solche aktiven Sensoren können die Existenz eines Objektes auch unabhängig von einer Kategorisierung durch ein neuronales Netz wahrnehmen.
Cariad hat in Ingolstadt vorgeführt, wie das Instinct-Konzept im praktischen Testbetrieb funktioniert. Die mit Unsicherheiten behafteten Aufnahmen kamen im Umweg über die Cloud direkt bei den Entwicklern an. Dabei ist es irrelevant, ob das Fahrzeug in Deutschland oder in Kalifornien unterwegs ist. Ebenfalls über die Cloud lässt sich eine neue Software einspielen, um mögliche Verbesserungen zu testen.
Flotte erst im Aufbau
Im Gegensatz zu Tesla, das sich relativ ungeniert bei den von den Kunden generierten Daten bedient, ist die Flotte von Cariad erst im Aufbau. "Bei unserer Pioneering Fleet handelt es sich nicht um eine klassische Entwicklungsflotte. Denn normalerweise kostet ein Entwicklungsfahrzeug mehrere 100.000 Euro, so dass in der Regel nur wenige Entwicklungsfahrzeuge aufgebaut werden können" , erläutert Sicklinger.













Das System sei mit dem Qualcomm-Rechner und den Sensoren schon sehr seriennah. "Weil wir es aber im 'Huckepack-Stil' kostengünstig in bestehende Serienfahrzeuge einbauen können, können wir eine hohe Zahl an Autos damit ausstatten und Echtzeitdaten schon Jahre vor der Markteinführung der neuen Autos sammeln. Bislang haben wir ein paar Dutzend Testautos, aber bis Mitte nächsten Jahres werden es mehrere Hundert sein. Bei diesen handelt es sich beispielsweise um Dienstwagen aus dem VW-Konzern" , sagt der Entwickler.
Ernüchternder McKinsey-Report
Ob die Entwicklungsschritte dem Konzern schnell genug gehen, ist jedoch offen. Ein Bericht des Beratungsunternehmens McKinsey soll laut Manager-Magazin moniert haben, dass 647 von 738 Hardwarespezifikationen und Funktionsdefinitionen nicht präzise genug formuliert seien. Das entspreche einem Anteil von 88 Prozent. McKinsey machte demnach Vorschläge, wie man die größten Verzögerungen vermeiden könne. "Etwa durch ein bisschen weniger beim autonomen Fahren: Level 3 statt Level 4" , schreibt das Magazin.
Das wäre ein weiterer Rückschritt für den Konzern. Schon jetzt hängen die Oberklassemarken beim hochautomatisierten Fahren der Konkurrenz von Mercedes hinterher, obwohl Audi als erster Hersteller einen Staupiloten nach Level 3 angekündigt hatte . Zumal VW zusammen mit Ford mehrere Milliarden Euro in das Startup Argo investiert , das in Hamburg selbstfahrende Elektrobusse entwickeln soll .
Die Softwareentwicklung bei VW und Cariad ist daher weiterhin mit großen Unsicherheiten verbunden. Es wäre wohl ein Traum für das Management, wenn Sicklinger und seine Mitarbeiter für Vorstand und Aufsichtsrat ein vollautomatisches Instinct-System entwickeln könnten.
Nachtrag vom 2. Juni 2022, 10:03 Uhr
Wir haben noch zwei Aussagen von Stefan Sicklinger zur Entwicklung von VW.OS in den Absätzen 6 und 7 auf der ersten Seite nachgetragen.
Nachtrag vom 2. Juni 2022, 11:08 Uhr
Nach Angaben von Cariad arbeiten derzeit 5.000 Mitarbeiter in dem Unternehmen. Wir haben die Zahl im ersten Absatz der zweiten Seite korrigiert.
Offenlegung: Golem.de hat auf Einladung von Cariad an der Präsentation in Ingolstadt teilgenommen. Die Kosten für die Anreise wurden zur Gänze von Cariad übernommen. Unsere Berichterstattung ist davon nicht beeinflusst und bleibt gewohnt neutral und kritisch. Der Artikel ist, wie alle anderen auf unserem Portal, unabhängig verfasst und unterliegt keinerlei Vorgaben seitens Dritter.



