Vision, Disruption, Transformation: Populäre Denkfehler in der Digitalisierung
Der Essay Träge Transformation hinterfragt Schlagwörter des IT-Managements und räumt mit gängigen Vorstellungen auf. Die Lektüre ist aufschlussreich und sogar lustig.

Diskussionen und Präsentationen zur Digitalisierung triefen allzu oft vor Schlagwörtern und Slogans, die unreflektiert vermeintliche Heilsversprechen herausposaunen. "Vision", "Disruption", die "Vernetzung" von allem und jedem und die berühmte "Start-up-Kultur" als leuchtendes Vorbild für etablierte Unternehmen sind nur einige von vielen Beispielen.
In ihrem 90-seitigen Essay Träge Transformation. Welche Denkfehler den digitalen Wandel blockieren hinterfragen die Professoren Sascha Friesike und Johanna Sprondel neun populäre, aber zu wenig durchdachte Losungen kritisch, kenntnisreich und angenehm ironisch. Das Büchlein lässt sich mit Vergnügen lesen - wahrlich kein Regelfall in der trockenen IT-Management-Literatur.
Ein Kurzbesuch im Silicon Valley reicht nicht
Die Autoren verwenden erhellende Beispiele, wie und warum trotz hoher Investitionen so viel schiefläuft in der digitalen Transformation in Deutschland. Dabei greifen sie auf ihre Erfahrungen aus der Praxis zurück - Friesike ist Professor für Design digitaler Innovationen an der Universität der Künste in Berlin und Direktor des Weizenbaum-Instituts für die vernetzte Gesellschaft, Sprondel ist Professorin für Medien, Kommunikation und Marketing an der Hochschule Macromedia in Stuttgart und berät international Unternehmen in Transformationsprozessen.
So nehmen sie die gängige These aufs Korn, dass Großunternehmen stets und viel von Start-ups lernen können. Zu diesem Zweck fahren viele Konzernmanager nach Berlin oder gleich ins gelobte Land, das Silicon Valley, und sehen sich dort um.
Das Problem: Ein mehrstündiger Besuch in einem Start-up ermöglicht nur erste Eindrücke. Entsprechend oberflächlich fällt dann die Übertragung auf die eigene Organisation aus und vor lauter Nachahmung wird zu wenig darauf geachtet, inwieweit denn Prozesse und Kultur einer jungen, kleinen Firma einem Großunternehmen mit einer ganz anderen Belegschaft übergestülpt werden können oder sollen.
Buzzwords und ihre Entzauberung
Andere Slogans lauten, dass Firmen unbedingt auf Visionen und die Disruption ihrer Geschäftsmodelle setzen sollten und dass Vernetzung und Agilität per se Allheilmittel seien. Friesike und Sprondel zeigen auf, dass Visionen häufig die tatsächlichen Ressourcen und Prozesse von Betrieben außer Acht lassen. Daran scheitert dann oft die Umsetzung. Erschwerend kommt hinzu, dass die langfristigen Ideen dazu führen können, dass realistischere und erfolgversprechendere mittelfristige Pläne ins Hintertreffen geraten.
Zum Hype um die vielfach geforderte Disruption schreiben sie nüchtern: "Disruptive Innovationen sind viel seltener, als der allgemeine Sprachgebrauch vermuten lässt. Viele Industrien entwickeln sich weiter, neue Firmen entstehen, andere verschwinden und das ganz ohne Disruption." Ein Trend wie Big Data ermögliche zwar neue Geschäftsmodelle. Aber erst wenn sie gefunden und konsequent umgesetzt würden, hätten sie das Potenzial der Disruptivität.
Eine große europäische Post hätte sich in einem mehrjährigen Projekt bemüht, der Losung "Daten sind das neue Öl" hinterherzulaufen und am Ende frustriert festgestellt, dass sich aus ihren Daten partout kein Geschäft machen ließ. Ein typisches Erfolgsbeispiel für disruptive Innovation dagegen ist die Wikipedia für den Markt der Lexika. Amazon, Google, Facebook, Apple und Paypal lassen Frisiesike und Sprondel jedoch nicht als Erfolgsbeispiele der Disruption gelten - worüber man trefflich streiten kann.
Grundsätzlich betonen und erklären Friesike und Sprondel eine wichtige begriffliche Differenzierung, nämlich den Unterschied zwischen Digitalisierung und digitaler Transformation. Digitalisierung ist demnach "zunächst einmal die Übersetzung von Analogem in Digitales - nicht mehr, aber auch nicht weniger". Beispielsweise werden Texte eingescannt und Musik in einer MP3-Datei zusammengefügt. "Digitalisierung macht einiges für einige einfacher zugänglich, sie verändert aber die Sache als solche nicht zu etwas Anderem oder macht sie zu etwas Besserem oder gar 'Bürgerfreundlichem'".
Dagegen verändert die digitale Transformation den Gegenstand selbst. Beispielsweise funktionieren digitale Landkarten anders als die Faltkarten früher und bieten Zusatzinformationen wie aktuelle Staumeldungen oder die Tankstellen mit dem günstigsten Benzin.
Abschließend raten die Autoren in pointierten Worten zur Prioritätensetzung je nach Handlungsbedarf: "Solch bodenständige Arbeit lässt sich jedoch nicht mit Superlativen und Schlagwort-Imperativen anpreisen, und wahrscheinlich wird auch niemand einen Bus chartern, um sich einen realistisch angelegten und durchgeführten, gut ausgehandelten digitalen Vergabeprozess im Sauerland anzuschauen, der tatsächlich funktioniert. ... Und wahrscheinlich kommt dabei manch transformationswütigem Beobachter das Interesse an Moonshots, Disruption und Co. abhanden."
Oder nutzen Sie das Golem-pur-Angebot
und lesen Golem.de
- ohne Werbung
- mit ausgeschaltetem Javascript
- mit RSS-Volltext-Feed
Willkommen in der Welt des Engineerings, der IT und der Programmierung. Dort wird öfters...
Wenn ein Unternehmen Prozesse verändert, dann darf das kein Selbstzweck sein. Beispiel...
Kommentieren