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Vertical Farming: Der Wolkenkratzer wird zum Gemüsebeet

In Hochhäusern wohnen wir, arbeiten wir - und bald bauen wir auch Gemüse darin an. Vertical Farming nennt sich die Form der Pflanzenzucht, die aus der Raumfahrt stammt. So sollen sich künftig die Bewohner von Megacitys mit gesundem Grün versorgen.
/ Werner Pluta
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Wolkenkratzer mit Farm: nachhaltige Ernährung für die Zukunft sichern (Bild: Plantagon/Sweco)
Wolkenkratzer mit Farm: nachhaltige Ernährung für die Zukunft sichern Bild: Plantagon/Sweco

Gemüseproduzenten - die großen ebenso wie die privaten Kleingärtner - entziehen Tomaten, Salat, Kohlrabi, Gurken und Radieschen gern den Wetterunbilden und lassen sie im Gewächshaus reifen. Vom Anbau her unterscheiden sich die Gewächshäuser aber nur bedingt vom Freilandanbau: Pflanzen wachsen nebeneinander unter dem Einfluss von Sonnenlicht im Boden.

Pflanzen wachsen in Gebäuden

Eine neue Form von Gewächshäusern soll künftig eine ganz andere Form des Anbaus bringen: Die Pflanzen sollen ohne Erde, ohne Regen, ohne Sonne und abgeschottet von allen Umwelteinflüssen wachsen. Gezogen werden sie in Gebäuden, den Farmscrapern, in vielen Stockwerken übereinander. Vertical Farming nennt sich dieses Konzept für den Anbau von Nutzpflanzen in der Großstadt der Zukunft.

Eine Vertical Farm sei ein "geschlossenes System von gesteuerten Umweltfaktoren" , sagt Christine Zimmermann-Lössl im Gespräch mit Golem.de. Sie ist Vorsitzende der Association for Vertical Farming(öffnet im neuen Fenster) , einer Organisation, die das Vertical Farming voranbringen möchte. Die Pflanzen wachsen in Gestellen, die wie Regale übereinanderstehen. Sensoren und Steuerungstechnik sorgen dafür, dass sie sich wohl fühlen: Sie achten auf den Kohlendioxidgehalt, regeln die Luftfeuchtigkeit, die Temperatur und natürlich die Beleuchtung.

Leuchtdioden geben gutes Licht für die Photosynthese

Das Licht kommt von Leuchtdioden (LED): Vorteil sei, dass sich die Wellenlänge für die Photosynthese(öffnet im neuen Fenster) genau einstellen lasse, sagt Zimmermann-Lössl. "Das ist das Revolutionäre." Fehlen nur noch Wasser und Nährstoffe. Hier gibt es zwei Varianten, um die Pflanzen damit zu versorgen. Beim hydroponischen Anbau(öffnet im neuen Fenster) wachsen Pflanzen in einem anorganischen Material, die Wurzeln hängen in Nährlösung - vergleichbar der heimischen Hydrokultur. Beim aeroponischen Anbau(öffnet im neuen Fenster) werden die Pflanzen aufgehängt und ihre Wurzeln mit Wasser und Nährstoffen besprüht.

Eine solche Vertical Farm ist ein geschlossenes System. Das bedeutet, dass etwa das Wasser oder die Nährstoffe nicht nach draußen gelangen und umgekehrt nichts hinein. So können die Pflanzen ungestört vom Lauf der Jahreszeiten wachsen. Tageslichteinfluss ist möglich - so wie etwa in den Wolkenkratzern Asian Cairns(öffnet im neuen Fenster) , die der belgische Architekt Vincent Callebaut erdacht hat. Es ist aber nicht unbedingt ratsam: "Um verlässliche Ernte- und Wachstumsbedingungen zu haben, ist LED-Licht die bessere und auch die ökonomischere Option" , sagt Zimmermann-Lössl.

Unter diesen kontrollierten Bedingungen können die Pflanzen rund um die Uhr wachsen.

Alles wächst

Ob sie das tatsächlich tun, ist Gegenstand der Forschung: Gesucht wird nach Rezepten, um jeder Pflanze die für sie passenden Bedingungen zu bieten: Welche Feuchtigkeit? Welche Wellenlänge des Lichts? Welche Temperatur? Kann eine Pflanze rund um die Uhr wachsen oder benötigt sie eine Ruhepause?

Vertical Farming - Plantagon
Vertical Farming - Plantagon (02:52)

In der freien Natur müssten die Pflanzen sich herrschenden Bedingungen anpassen, dem Wetter, der Sonne, den Gegebenheiten des Bodens. "Das brauchen sie alles nicht, wenn sie einen Nährstoffnebel kriegen, der genau mit dem richtigen Sauerstoff und den richtigen Mikronährstoffen angereichert ist" , sagt Zimmermann-Lössl. "Es scheint ein künstliches Produkt zu sein. Ist es aber nicht, weil wir nur die tatsächlichen Umweltbedingungen, die eine Pflanze braucht, optimieren. Und das ist in meinen Augen nicht künstlich."

Die Erntezeit steht fest

Künstlich hin oder her: Das Konzept hat seine Vorteile. So kann zu jeder Jahreszeit gepflanzt und geerntet werden. Salat und Gemüse gibt es also im Winter ebenso frisch wie heutzutage im Sommer. Dafür steht schon beim Pflanzen fest, wann geerntet wird - wobei die Reifezeit kürzer sein soll als im Freiland. Der Ertrag soll höher liegen, ebenso der Nährstoffgehalt. Mit Schadstoffen oder Feinstaub sind die Pflanzen nicht belastet.

Selbst eine personalisierte Nährpflanze sei denkbar, sagt Zimmermann-Lössl: Werde ein Mangel an bestimmten Nährstoffen festgestellt, könnten für diese Person Pflanzen so gezogen werden, dass diese Stoffe darin besonders angereichert werden. "Nährstoffmangel ist ein viel wichtigeres Thema als Hunger." Mit Grünzeug aus dem Wolkenkratzer ließe sich dem beikommen.

Was wird angebaut

Praktisch jede Pflanze soll sich für den Anbau im Agro-Wolkenkratzer eignen - von der Kartoffel bis zum Reis. Zimmermann-Lössl hält es aus ökonomischer Sicht allerdings für sinnvoll, mit hochwertigen Grünpflanzen anzufangen, mit Baby Leafs oder Micro Greens. Das sind kleinblättrige Salate, die reich an Vitaminen und anderen Nährstoffen sind. Solche Pflanzen ließen sich in heutigen Prototypenanlagen zu einem Preis produzieren, der mit Bioprodukten konkurrieren könne.

Ursprünglich waren solche Farmen jedoch nicht für irdische Anwendungen gedacht.

Vom Weltall ins Hochhaus

Die Idee, Pflanzen ohne Mutterboden, Sonnenschein und Regen aufwachsen zu lassen, stammt nämlich aus der Raumfahrt: Sollte der Mensch tatsächlich einmal andere Planeten besiedeln, könnten die Kolonisten auf diese Art und Weise ihre Ernährung sichern - auf ihrem Weg zu dem fremden Himmelskörper und natürlich auch dort. Entsprechend forscht die US-Raumfahrtbehörde National Aeronautics and Space Administration (Nasa) seit Ende der 1990er-Jahre daran.

Ein wichtiges Labor für solche Projekte ist die Internationale Raumstation(öffnet im neuen Fenster) (International Space Station, ISS). Seit 2002 züchten die ISS-Besatzungen beispielsweise in der Lada Validating Vegetable Production Unit(öffnet im neuen Fenster) , einem Gewächshaus, allerlei Grünzeug.

Guten Appetit auf der ISS

Das waren aber alles nur Versuche: Die Ernte wurde gefroren und für Untersuchungen zurück zur Erde geschickt. Bis jetzt: Dieser Tage haben die Astronauten erstmals Weltraumsalat gegessen. Im vergangenen Jahr flog das Minigewächshaus Veggie zur ISS , in dem in kleinen Kissen Salatsetzlinge gezogen werden. Nach 33 Tagen ist der Römische Salat reif.

Die ISS-Besatzung isst den ersten Weltraumsalat - Nasa
Die ISS-Besatzung isst den ersten Weltraumsalat - Nasa (00:15)

Die erste Ernte flog wie gehabt tiefgefroren zurück zur Erde. Dort wurde sie genau untersucht. Von Interesse waren unter anderem die Mikroorganismen, die darauf wuchsen. Anfang Juli 2015 setzten die Astronauten die zweite Zucht an - und konnten dieses Mal auch ernten, was sie gezogen hatten: Am 10. August durften sie erstmals vom Weltraumsalat kosten. Eine reichhaltige Grünmahlzeit dürfte es nicht geworden sein: Die Hälfte der Ernte wurde wieder eingefroren und soll zurück zur Erde transportiert werden.

Despommier holt Raumfahrtkonzept auf die Erde

Doch während die Nasa darüber nachdachte, wie sich Raumfahrer ernähren können, überlegte Dickson Despommier, Biologe und Ökologe an der Columbia-Universität in New York City, um die Jahrtausendwende, ob sich diese Konzepte nicht auch für irdische Zwecke einsetzen ließen. Angefangen hatte es als Seminarthema an der Universität mit einer Studentengruppe. Später wurde ein Buch daraus: The Vertical Farm: Feeding the world in the 21st Century(öffnet im neuen Fenster) , mit dem er sich den Spitznamen des "Vater des Vertical Farming" erarbeitete. Nicht zu Unrecht: Immerhin hat er den Begriff geprägt.

Nahrung in Städten anzubauen, sagt Despomier, sei eine probate Möglichkeit, mit bestimmten Trends der Zukunft umzugehen.

Die zukünftige Welt

Der Großteil der Menschen wird Mitte des Jahrhunderts in Städten leben: Seit 2007 lebt die Hälfte der Weltbevölkerung in Städten(öffnet im neuen Fenster) . Bis 2050 sollen es 80 Prozent sein. Dann werden wir auch deutlich mehr sein: Nach Berechnungen der Vereinten Nationen(öffnet im neuen Fenster) leben derzeit etwa 7,3 Milliarden Menschen auf der Erde. Bis zum Jahr 2050 sollen es 9,7 Milliarden Menschen sein.

Um sie zu ernähren, bedürfte es einer zusätzlichen Anbaufläche von der Größe Brasiliens - immerhin das fünftgrößte Land der Welt. Wachsen aber die Städte zu Megacitys wie Mumbai, Mexiko Stadt oder Schanghai, schwindet auch die Fläche für die Landwirtschaft. Ein Anbau in der Vertikalen, der nicht viel Fläche benötigt, käme da nur recht.

Schadstoffe belasten Pflanzen

Ohnehin sind viele Böden inzwischen durch intensive Landwirtschaft ausgelaugt. Vielerorts ist die Belastung durch Luftschadstoffe so hoch, dass Grünpflanzen eher nicht so appetitlich sein dürften. China etwa gehört dazu, aber auch andere asiatische Länder wie Indien oder Bangladesch.

Gleichzeitig trägt die Landwirtschaft zur Belastung der Umwelt bei, durch Pestizide etwa. Nährstoffe, die durch den Dünger in die Gewässer gespült werden, lassen dort Algenteppiche wachsen. Landmaschinen und Transporter, die die Erzeugnisse zu den Konsumenten in den Städten bringen, verbrauchen Energie und belasten mit Abgasen ihrerseits die Luft.

Wasser ist knapp

Hinzu kommt die Wasserknappheit in vielen Regionen der Erde - in Afrika etwa, Asien oder auch im Südwesten der USA. Auf der anderen Seite werden etwa 70 Prozent des Trinkwassers für die Landwirtschaft aufgewendet. "In Gegenden, wo es klimatisch schwierig ist, und wo der Boden erodiert, überall dort könnte Vertical Farming ein Teil der Lösung sein" , sagt Zimmermann-Lössl.

Durch Vertical Farming lasse sich, so sagen die Befürworter, der Wasserbedarf immens einschränken. Es werde weniger Dünger benötigt, und, da die Pflanzen in der Stadt angebaut würden, falle der Transport weg, was wiederum der Umwelt nutze. Dadurch soll sich der Ausschuss verringern lassen: Viel Obst und Gemüse verdirbt beim Transport oder der Lagerung. Das werde nicht mehr der Fall sein, wenn die Transportwege kürzer werden und die Pflanzen verlässlich zu jedem Zeitpunkt geerntet werden können.

Tiere bekommen mehr Lebensraum

Schließlich: Werde die Landwirtschaft auf Vertical Farming umgestellt, könnten heutige Anbauflächen renaturiert werden. Das wiederum käme den Tieren zugute, die einen Teil ihres Lebensraum zurückbekämen.

Löst Vertical Farming also bald den Anbau auf dem Acker ab?

Wann kommen die Farmscraper?

Das alles mag überzeugend klingen. Aber es gibt auch eine Menge Unwägbarkeiten. So ist beispielsweise nicht gesichert, dass die Energiebilanz eines solchen Anbaus tatsächlich besser ausfällt als die heutiger Landwirtschaft. Schließlich benötigen die Anlagen der Farmscraper auch viel Energie.

Verlässliche Zahlen gibt derzeit noch keine. Die Energiebilanz sei allerdings ein wichtiges Forschungsthema, erzählt Zimmermann-Lössl. Eine neue Studie dazu soll im November veröffentlicht werden.

In der Brightbox wächst Salat

Gebaut ist aber noch wenig. In Venlo in den Niederlanden haben die HAS-Universität und mehrere Unternehmen, darunter Philips, die Brightbox(öffnet im neuen Fenster) eingerichtet. Dort züchten die Niederländer seit einigen Monaten in einem mehrstöckigen Regal Salat und andere Grünpflanzen. Philips hat die Beleuchtung geliefert.

Vertikale Farm Brightbox - Philips
Vertikale Farm Brightbox - Philips (03:06)

In Singapur gibt es Sky Greens(öffnet im neuen Fenster) . Dort werden seit einigen Jahren auf 9 Meter hohen Gestellen verschiedene Grünpflanzen gezüchtet. Als Lichtquelle dient die Sonne, die Wannen, in denen die Pflanzen wachsen, rotieren hydraulisch angetrieben, damit Chinakohl, Kopfsalat oder Spinat gleichmäßig Licht bekommen. Das System nimmt laut Betreiber nur 40 Watt auf.

Sky Greens' Produkte sind beliebt

Sky Greens produziert schon seit einigen Jahren, und die Produkte sind beliebt: Auf den Märkten des südasiatischen Stadtstaats würden diese gern gekauft, erzählt Zimmermann-Lössl. Sie hat die vertikale Farm in Singapur vor einigen Monaten besichtigt. Allerdings sei Sky Greens noch "bei weitem nicht so optimiert, wie man optimieren kann" .

Weitere Projekte gibt es in den USA: In Jackson Hole im US-Bundesstaat Wyoming etwa werden in Vertical Harvest(öffnet im neuen Fenster) auf einer Fläche von knapp 1.700 Quadratmetern Gemüse, Kräuter und Tomaten angebaut. Die abgelegene Kleinstadt liegt auf 1.900 Metern Höhe, weshalb der Winter dort fast ein halbes Jahr lang ist. Entsprechend wenig wächst dort. Um dennoch frisches Obst und Gemüse zu bekommen, wurde die dreistöckige Farm errichtet. Finanziert wurde das Projekt zum Teil per Crowdfunding(öffnet im neuen Fenster) .

Vertical Harvest nutzt auch das Sonnenlicht

Vertical Harvest hat einen geschlossenen Wasserkreislauf, die Pflanzen wachsen in Hydrokulturen. Das Haus hat eine Glasfront, damit im Sommer die Sonne Licht spendet - das soll Strom sparen. Ähnlich wie in Sky Greens rotieren auch hier die Pflanzenbehälter, damit die Pflanzen gleichmäßig beleuchtet werden. Im Winter ermöglicht künstliches Licht den Pflanzen die Photosynthese.

Größer wird es in Newark im US-Bundesstaat New Jersey: Dort baut das US-Unternehmen Aerofarms(öffnet im neuen Fenster) in einem stillgelegten Stahlwerk die nach eigenen Angaben "größte vertikale Farm der Welt" . Auf einer Fläche von 6.500 Quadratmetern sollen Baby Leafs und Kräuter unter LED-Licht mit aeroponischer Technik angebaut werden.

Wohnen und Anbauen im gleichen Gebäude

Projekte wie die Asian Cairns, die der Belgier Callebaut in Shenzhen nahe Hongkong bauen will, oder das futuristischen Gebäude, das das schwedische Unternehmen Plantagon(öffnet im neuen Fenster) plant, sind jedoch noch Entwürfe. Bemerkenswert ist, dass sowohl Callebaut als auch Plantagon auch eine Mischnutzung in Betracht ziehen: Ihre Gebäude sind keine reinen Farmscraper.

Der Kern der Asian Cairns - zu Deutsch etwa: asiatische Steinhügel - sollen Wohntürme sein, um die Glasstrukturen in Form flacher Kiesel gebaut sind. Darin sollen die Bewohner der Hochhäuser ihr eigenes Obst und Gemüse anbauen. Auch Plantagons Hochhäuser sollen nur zum Teil als Farm genutzt werden. Mit dem System Plantawall sollen sogar existierende Hochhäuser nachträglich mit einer vertikalen Anbaufläche ausgestattet werden.

Dass die Form des Nutzpflanzenanbaus ein kontroverses Thema ist, darüber ist sich Zimmermann-Lössl klar. Allerdings scheint er unausweichlich: In 10 bis 15 Jahren, so glauben Wissenschaftler, werde es in jeder Stadt eine Vertical Farm geben. Zimmermann-Lössl hält das Vertical Farming auch für unausweichlich: "Es geht darum, für die Zukunft eine nachhaltige Ernährung zu sichern."


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