Ursula von der Leyen: Von "Zensursula" zur EU-Kommissionspräsidentin

Ursula von der Leyen trat am Dienstagmorgen in Straßburg an, um die Gesichter der Staats- und Regierungschefs der EU zu wahren sowie das "Europa der Werte" und die Welt zu retten. Die Generation ihrer Kinder könne sich eine Welt ohne das "Heimatgefühl Europa" gar nicht mehr vorstellen, erläuterte die noch amtierende Bundesverteidigungsministerin bei der Rede zur Präsentation ihrer Brüsseler Agenda vor dem ausnahmsweise mal recht vollständig versammelten Europäischen Parlament. Doch es gebe "disruptive Entwicklungen" , denen sich die EU unter ihrer Führung entgegenstemmen müsse.
Dazu zählte die 60-Jährige den "demografischen Wandel, die Globalisierung der Weltwirtschaft, die rasante Digitalisierung unserer Arbeitswelt und natürlich den Klimawandel" . Die Folgen dieser Faktoren seien jetzt konkret zu spüren. Sie verwies etwa auf Dürren, Hitzewellen oder die "Rentnerin in Irland, die mit Online-Banking umgehen muss" . Viele Menschen hätten daher das Gefühl, "die Kontrolle verloren zu haben" . Einige wendeten sich so autoritären Regimes zu, andere dem Protektionismus. "Wir wünschen uns Multilateralismus" sowie eine "regelbasierte Ordnung" , hielt die Kandidaten dem entgegen. "Wir müssen den europäischen Weg gehen."
Trotz des holprigen Starts mit der plötzlichen Nominierung durch die europäischen Staats- und Regierungschefs vor rund zwei Wochen stimmten am Abend in geheimer Wahl 383 Abgeordnete für die in Brüssel geborene und nun wieder dorthin zurückkehrende Deutsche, 327 waren gegen sie und über 20 enthielten sich. Ihren Posten im Verteidigungsressort will sie schon am Mittwoch endgültig aufgeben. Die Grünen und die Linke hatte sie in der Endrunde ihres kurzen Wahlkampfs trotz aller Zusagen und Versprechungen in deren Richtung größtenteils nicht mehr überzeugen können, doch vor allem im Lager ihrer Fraktion der konservativen Europäischen Volkspartei (EVP), bei den Liberalen und einem Teil der europäischen Sozialdemokraten machte sie Punkte.
Nobelste Pflicht, die Schöpfung zu erhalten
Ganz oben in ihrer Bestandsaufnahme der großen künftigen Schlachten liegen nun der Klimaschutz und die Digitalisierung. Während der ersten 100 Tage ihrer Amtszeit will sie laut ihren am Dienstag veröffentlichten politischen Leitlinien(öffnet im neuen Fenster) und ihren mündlichen Bekundungen vor den Volksvertretern einen "Green Deal" für Europa zusammen mit dem ersten Entwurf für ein europäisches Klimagesetz auf den Weg bringen. Der alte Kontinent soll demnach der erste klimaneutrale weltweit werden.
Bislang hatten sich die EU-Staaten nur darauf einigen können, den Ausstoß klimabeeinträchtigender Stoffe wie CO2 bis 2030 um 40 Prozent gegenüber 1990 zu senken. Dies reiche nicht aus, betonte von der Leyen. Sie kündigte an, sich für eine Reduktion "um 50 Prozent, wenn nicht 55 Prozent" einzusetzen. Sie will dafür das System des Emissionshandels etwa auf die Luft- und Seefahrt ausdehnen und eine CO2-Grenzsteuer einführen. Es sei die "nobelste Pflicht" der Menschheit, die Erde und die Schöpfung "gesund" zu halten und dabei keine Zeit mehr zu verlieren.
Auf der zweiten Großbaustelle der Digitalisierung will die Ärztin bis zum Herbst einen Gesetzesakt für einen "koordinierten Ansatz für die menschlichen und ethischen Auswirkungen der künstlichen Intelligenz" anstoßen. Eine Blaupause dafür hat eine hochrangige Expertengruppe bereits geliefert, so dass sich der Arbeitsaufwand dafür in Grenzen halten dürfte. Einen Schwerpunkt sieht von der Leyen hier beim umstrittenen Datenreichtum vernetzter Geräte und Dienste: Big Data will sie für Innovationen genutzt wissen, um den Wohlstand von Wirtschaft und Gesellschaft zu mehren.
Plattformen sollen schärfer reguliert werden
Erinnerungen an die Zensursula-Debatte dürften bei vielen wieder aufkommen, wenn von der Leyen einen Gesetzentwurf für "digitale Dienste" ankündigt, um Online-Plattformen an die Kandare zu nehmen. Laut online bereits kursierenden einschlägigen Eckpunkten (PDF)(öffnet im neuen Fenster) geht es der künftigen Kommissionspräsidenten dabei etwa darum, die Haftungsprivilegien für Provider aus der E-Commerce-Richtlinie neu zu justieren und gegebenenfalls einzuschränken. Für Portalbetreiber sind mehr Auflagen vorgesehen, um den Kampf gegen illegale Inhalte und Hasskommentare etwa auch mit Upload-Filtern zu führen, wie sie bereits in der lange umkämpften Urheberrechtsrichtlinie angelegt sind.
Die künftige Präsidentin will zudem gemeinsame Standards "für unsere 5G-Netzwerke" voranbringen. Auch auf anderen Feldern sieht sie es als noch nicht zu spät am, um in der EU doch noch die "technologische Souveränität" in mehreren "entscheidenden Technologiegebieten" zu erreichen. Im Blick hat sie dabei vor allem die Datenbanktechnik Blockchain, Quantencomputer, Algorithmen und Big Data.
Tech-Konzerne ermahnte von der Leyen, nicht länger mit dem Steuersystem zu spielen. Sie warb für eine "faire Besteuerung" auch digitaler Geschäfte. Sollte sich bis Ende 2020 keine globale Lösung für eine Digitalsteuer finden lassen, müsse die EU hier allein vorangehen. Weiter plant die Spitzenpolitikerin eine "Cybereinheit" für mehr Sicherheit im Netz, bessere Arbeitsbedingungen für Crowd- und Clickworker sowie eine "komplette Digitalisierung" der Kommissionsarbeit im Sinne von stärkerer Effizienz und Transparenz.
"Wieso machst du das Internet kaputt?"
Vergangene Woche hatte die CDU-Politikerin bei einer Anhörung der Grünen erklärt, dass ihr die Großdemonstrationen und der lautstarke Protest gegen die im Frühjahr verabschiedete Urheberrechtsreform nicht entgangen seien. Ihre Kinder hätten sie immer wieder gefragt: "Wieso machst du das Internet kaputt mit Artikel 13?" Diese mittlerweile in Artikel 17 umbenannte Klausel der Richtlinie steht für Upload-Filter und die damit verknüpfte Internetzensur.
Für von der Leyen steht der Fall vor allem für ein "wahnsinniges Informationsdefizit" bei der Bevölkerung rund um die Novelle. Die Bürger müssten daher stärker in Gesetzgebungsprozesse eingebunden werden. Die Proteste seien aber erfolgreich gewesen, da das Parlament und der Ministerrat noch nachgebessert hätten. Plattformen für nutzergenerierte Inhalte werden trotzdem deutlich stärker in die Haftung genommen und kommen um den Einsatz automatisierter Filterverfahren kaum herum. Ob sie eine weitere Urheberrechtsreform anstoßen werde, ließ von der Leyen offen.
Einen Kurswechsel dürfte es mit der Konservativen auch bei Formen der Massenüberwachung wie etwa der Vorratsspeicherung von Telekommunikations- oder Flugpassagierdaten nicht geben. Es sei oft schwierig gewesen, Gefährder grenzüberschreitend zu verfolgen und Informationen der Behörden zusammenzuführen, gab sie zu bedenken. Im Bereich der Terrorismusbekämpfung etwa müsse immer wieder neu ein Ausgleich gefunden werden zwischen dem Interesse an Sicherheit und des Schutzes der Privatsphäre der Bürger. Auf den Appell der in der Grünen-Fraktion mitvertretenen Mitglieder der Piratenpartei, ein Moratorium bei Überwachungsgesetzen einzuführen, reagierte sie nicht.
Beraterkontakte offen legen
Vor allem aus Kreisen der EVP, der Sozialdemokraten und der Liberalen erhielt die Kandidaten viel Lob für ihre Rede und ihre Pläne. Grüne und Linke lehnten diese angesichts des Klimanotstands und der sozialen Krise dagegen als zu vage ab. Der britische Brexit-Vorkämpfer Nigel Farage warf von der Leyen wiederum kommunistische Tendenzen vor, Jörg Meuthen attestierte ihr im Namen der rechtspopulistische Fraktion Identität und Demokratie eine "sozialistische Anbiederungsperformance" . Die Ministerin sei in ihrer Heimat den Ansprüchen an Amtsführung und Politikgestaltung "in keinem ihrer Ämter zufriedenstellend gerecht geworden," monierte der AfD-Politiker. Die Praxis, missliebige Politiker auf Brüsseler Posten unterzubringen, müsse endlich gestoppt werden.
Nico Semsrott von der Partei verlangte von seiner Landsfrau, ihre Interessen völlig offenzulegen. Er wollte hier mit gutem Beispiel vorangehen und hatte seinen Kapuzenpulli mit Sponsoren-Aufklebern etwa von Beraterfirmen oder der EU-Verteidigungsunion Pesco beklebt(öffnet im neuen Fenster) . "In einer gemäßigten Demokratie sollte man wenigstens so Werbebanner tragen, damit alle wissen, für wen man arbeitet" , erläuterte er dazu. Weiter fragte er ironisch(öffnet im neuen Fenster) : "Trauen wir uns die Wahl der nächsten Kommissionspräsidentin überhaupt zu, bevor wir nicht eine Beraterfirma engagiert haben, die uns ein Gutachten über die Wählbarkeit von Ursula von der Leyen ausstellt?"


