Überwachungsgesamtrechnung: 3.228 Befugnisse reichen der Politik noch nicht aus

Zwar ist die Ampelkoalition inzwischen Geschichte, doch eines ihrer Projekte ist noch spät zum Abschluss gekommen. Die im Koalitionsvertrag vereinbarte Studie zur Überwachungsgesamtrechnung ist Anfang Mai 2025 vom Max-Planck-Institut zur Erforschung von Kriminalität, Sicherheit und Recht veröffentlicht worden. Das zwölfköpfige Forschungsteam ermittelte 3.228 Befugnisse und Befugnisvarianten für die Sicherheitsbehörden. Doch es bleibt unklar, wie intensiv diese genutzt werden.
Das Konzept der Überwachungsgesamtrechnung geht auf ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 2010 zurück. Damals schrieben die Karlsruher Richter(öffnet im neuen Fenster) : "Die Einführung der Telekommunikationsverkehrsdatenspeicherung kann damit nicht als Vorbild für die Schaffung weiterer vorsorglich anlassloser Datensammlungen dienen, sondern zwingt den Gesetzgeber bei der Erwägung neuer Speicherungspflichten oder -berechtigungen in Blick auf die Gesamtheit der verschiedenen schon vorhandenen Datensammlungen zu größerer Zurückhaltung."
Komplexe Befugnisse
Daher wollte die Ampel die Sicherheitsgesetze "auf ihre tatsächlichen und rechtlichen Auswirkungen sowie auf ihre Effektivität hin evaluieren" . Neben der Überwachungsgesamtrechnung wollten die Koalition "bis spätestens Ende 2023 eine unabhängige wissenschaftliche Evaluation der Sicherheitsgesetze und ihrer Auswirkungen auf Freiheit und Demokratie im Lichte technischer Entwicklungen" erstellen.
Nun legte das Max-Planck-Institut zumindest eine erste Evaluierung vor(öffnet im neuen Fenster) . Diese erfasst und bewertet in drei verschiedenen Dokumenten "Überwachungsbefugnisse und -maßnahmen der Sicherheits- und Strafverfolgungsbehörden in Deutschland" . Das Ergebnis der einjährigen Analyse lautet demnach: "Die Überwachungsbefugnisse hierzulande sind vielfältig und sehr komplex geregelt. Die meisten von ihnen bewegen sich in einem breiten mittleren Schwerebereich."
Statistische Auswertung ist Mangelware
Doch es bleibt ein großes Defizit. Denn die meisten Behörden seien "bislang nicht in der Lage, belastbare statistische Daten über die Anzahl der von ihnen durchgeführten Überwachungsmaßnahmen zu liefern" . Das sei nicht nur ein gravierendes Problem für die quantitative Berechnung der gesamtgesellschaftlichen "Überwachungslast" . Auch verfassungsrechtlich sei dies problematisch, weil die Dokumentation der behördlichen Anwendungspraxis eine wichtige Rolle bei der Prüfung der Verhältnismäßigkeit staatlicher Eingriffe in Freiheitsrechte spiele.
Neben dem eigentlichen 124-seitigen Bericht(öffnet im neuen Fenster) (PDF) und einem knapp 100-seitigen Manual(öffnet im neuen Fenster) (PDF) erstellten die Forscher noch eine 277-seitige Datenbank(öffnet im neuen Fenster) (PDF) mit fast 4.700 Befugniseinträgen. In der Tabelle finden sich allein 224 Einträge zur Quellen-Telekommunikationsüberwachung (Quellen-TKÜ) durch sogenannte Staatstrojaner.
Um das Überwachungsniveau zu berechnen, berücksichtigten die Forscher verschiedene Faktoren wie Eingriffsintensität, Schutzmaßnahmen und Anwendungshäufigkeit. Daraus berechneten sich einzelne Werte wie der normative Eingriffswert oder der Überwachungswert, der sich aus dem Produkt des normativen Eingriffswerts und des Häufigkeitswerts ergibt. Das Überwachungsvolumen berücksichtigt hingegen die absolute Häufigkeit einer Maßnahme. Der Überwachungsgesamtwert wiederum beschreibt die Summe aller Überwachungskategorienwerte.
Doch die Forscher mussten feststellen, dass die Polizeibehörden die Häufigkeit einer Maßnahme oft gar nicht erfassen.
Bund mit dem höchsten Gesamtwert
"Anders als zunächst vermutet, ist es offenbar technisch nicht möglich, die elektronischen Systeme der Behörden zielgerichtet wie eine Datenbank, etwa nach Schlagworten oder Ermächtigungsgrundlagen zu durchsuchen. Dies trifft sowohl für die Polizeien als auch für die Staatsanwaltschaften zu" , heißt es.
Ein Beispiel für die Probleme ist die jährliche Statistik zum Staatstrojanereinsatz. Diese musste vom zuständigen Bundesamt für Justiz (BfJ) in der Vergangenheit mehrfach korrigiert werden .
Trotz der genannten Defizite ergeben sich Überwachungsgesamtwerte für die einzelnen Maßnahmen sowie für den Bund und die Bundesländer. Dabei weist der Bund wegen der zentralen Behörden wie Bundespolizei, Bundeskriminalamt (BKA) und Bundesanwaltschaft den höchsten Wert von 260,477 bei einem Maximalwert von 570,000 auf. Es folgen die Länder Hamburg (231,324), Baden-Württemberg (196,449) und Schleswig-Holstein (195,335). Schlusslichter sind das Saarland (115,157), Hessen (100,717) und Thüringen (75,960).
Dabei fällt jedoch auf: Der Befugniswert bei Bund und Ländern liegt im Durchschnitt zwischen 5 und 6 bei maximal 10 Punkten. Das bedeutet, dass die Eingriffsintensität der Befugnisse sich kaum unterscheidet. Bei den Maßnahmen weisen die Abfrage von Verkehrsdaten sowie die Quellen-TKÜ die mit Abstand höchsten Überwachungsgesamtwerte auf. Dabei werden die Fluggastdaten im Jahr 2022 allein vom BKA 422 Millionen Mal abgefragt.
Union wollte Überwachungsgesamtrechnung stoppen
Wird die neue Bundesregierung von Union und SPD die Ergebnisse dazu verwenden, um neue Überwachungsbefugnisse infrage zu stellen? Wohl eher nicht. Denn die Unionsfraktion im Bundestag forderte Ende Januar 2025 in einem Entschließungsantrag , die Erstellung der Überwachungsgesamtrechnung "umgehend aufzugeben" . Stattdessen solle eine "Bedrohungsgesamtrechnung" erstellt werden, um eine Übersicht des Bedarfs an Fähigkeiten und gesetzlichen Anpassungen für die Sicherheitsbehörden des Bundes abzuleiten.
Was die Union damals wohl nicht wusste: Die Studie war schon fertig, da sie auf den Januar 2025 datiert ist. Allerdings verzichtete das Bundesinnenministerium darauf, sie im Wahlkampf oder während der Koalitionsverhandlungen zu veröffentlichen. Stattdessen einigten sich Union und SPD im Koalitionsvertrag auf weitreichende Überwachungsmaßnahmen . Vorratsdatenspeicherung, Staatstrojaner, Massenbiometrie, Rasterfahndung und Autokennzeichenerfassung dürften den Überwachungsgesamtwert deutlich in die Höhe treiben.



