Twitch: Wenn Coder live auf Sendung gehen

Freitagabend vor dem Bildschirm. Wer früher pünktlich um 20:15 Uhr den aktuellen Prosieben-Blockbuster schaute, sitzt heute eher vor einer Streaming-Plattform der Wahl. Doch eine große Gemeinschaft vor flackernden Bildschirmen schaut lieber anderen Menschen beim Zocken zu: Twitch-Viewer - nicht nur ein paar, sondern tausende. Jeden Abend.
Twitch bietet längst nicht mehr nur Unterhaltung im Gaming-Bereich. Zwar gilt inzwischen ein Casinoverbot(öffnet im neuen Fenster) , aber es gibt auch IRL-Streams (In Real Life), eine eigens für Tiere geschaffene Kategorie und (bislang noch) eine Nische: die Sparte Softwareentwicklung. Dank populärer Streamer wie Piratesoftware(öffnet im neuen Fenster) schauen hier inzwischen freitagabends schon mal 10.000 bis 20.000 Menschen zu.
Wir werfen gemeinsam mit Gregor Biswanger - seit mehr als fünf Jahren Coding-Streamer - einen Blick hinter die Kulissen einer Twitch-Show und sprechen über Geld, Authentizität und Shitstorms.
Interaktion steht im Vordergrund
Einmal in der Woche, immer freitags um 20:30 Uhr, spricht Gregor Biswanger in seiner Show MyCodingZone mit Gästen(öffnet im neuen Fenster) - und manchmal auch ganz allein über aktuelle Coding-Themen wie GenAI oder Robots 2.0. Es gibt interaktive Umfragen, im Chat dürfen und sollen Fragen gestellt werden.
"Es ist ein interaktives Format und das steht im Vordergrund, anders als bei Youtube" , sagt Biswanger. Dort könne man in der Kommentarspalte kaum richtig interagieren. "Aber bei Twitch sind wir live, und das Interaktive zählt!"
Nur ein bisschen Taschengeld
Der Fokus liegt auf einer Art Meetup: über Coding sprechen, Freunde finden, sich mit der Community austauschen. Sogar Jobs wurden in einem von Biswangers Twitch-Streams schon vergeben. Im Chat schreibt man eben auch miteinander.
Biswanger streamt meist vor 20 bis 200 Zuschauern. "Leider ist es kein Vollzeitjob" , bedauert er und erklärt weiter, dass er als Berater und Coach seinen Lebensunterhalt verdient: "Ich wäre gerne Vollzeitstreamer, aber das, was dabei rumkommt, ist eher ein Taschengeld. Aber es macht Spaß und die Community ist super!"
Dass dies an Biswangers Art zu streamen liegt und es in der Community auch Zoff geben kann, zeigt der Fall Piratesoftware. Dessen Show zieht zwar mehr Zuschauer an als Biswangers, aber auch mehr Hater.
Der Fall Piratesoftware
Streamer Piratesoftware, richtiger Vorname Thor, ist ein Ex-Mitarbeiter des Spielestudios Blizzard, der sich selbstständig machte - dass er Blizzard nach eigener Aussage kaum erwähnt, gilt als kleiner Insiderwitz(öffnet im neuen Fenster) . Er gründete ein eigenes Game-Dev-Studio und entwickelt nun kleine Indie-Spiele für Steam. So bewirbt er es jedenfalls auf Twitch(öffnet im neuen Fenster) , wo er nicht selten zehn bis zwölf Stunden am Tag live ist.
Dort liefert er zwar mehr Smalltalk und gezockte Games als aktives Coding, doch selbst dabei hat er täglich zwischen 3.000 und 15.000 Zuschauer. In den letzten Wochen ging es in der Community wegen seiner Show heiß her.
Piratesoftwares Code wird seziert
Angefangen hat alles mit dem Spiel World of Warcraft, wo Thor im Hardcore-Modus ohne Rücksicht auf Verluste mit seinem Magier in einem Dungeon eine gefährliche Gegnergruppe pullte - was schließlich zum Permadeath zweier Spielercharaktere führte. Er beschimpfte ausschweifend seine Mitspieler vor tausenden von Zuschauern. Dann kam heraus, dass er die brenzlige Situation selbst herbeigeführt hatte. Von Reue keine Spur. Prompt formierten sich die ersten Lynchmobs im Chat.
Damit nicht genug, Thor verteidigte auch die Entwickler, Studios oder Publisher, die Spiele irgendwann abschalten und ihren Fans nicht dauerhaft zugänglich machen. Das sei ihr gutes Recht, sagte er vor laufender Kamera. Wer reitet so spät durch Nacht und Wind? Es ist der Shitstorm mit seinem Kind. Denn sehr viele Gamer sind anderer Ansicht.
Unter dem Motto Stop Killing Games formiert sich derzeit eine Petition, die schon Anfang Juli eine Million Unterstützer erhielt . Auch Biswanger unterstützt das. "Spiele, die ich einmal kaufe, sollte ich für immer spielen können" , sagt er, der in seiner Freizeit immer noch dem guten alten Age of Empires die Treue hält.
Widerstand gegen Thor entwickelte sich somit schnell - und die geballte Coding-Twitch-Community nimmt seit Wochen jeden einzelnen Schnipsel seines Codes auseinander, den sie auftreiben kann. Und findet dabei Verstöße gegen grundlegende Coding-Paradigmen.
Biswanger ist Thors Art der Twitch-Show fremd. Er sagt: "Wenn die Community bei dir einschaltet, möchte sie keine Show, sie möchte dich. Authentizität ist wichtig!"
Code statt Show
Politische Themen, auch wenn sie ihn persönlich betreffen, etwa Stop Killing Games, meidet Biswanger vor der Kamera. Er gibt lieber seinen Gästen eine Bühne. "Jeder Gast bei uns hat ja quasi freie Wahl, wie er den Abend gestalten möchte. Manche coden live, andere bringen Powerpoint-Slides mit oder zeigen bereits fertigen Code."
Ein echtes Pair-Programming-Konzept sei auf Twitch allerdings schwierig umzusetzen, sagt Biswanger - auch wenn es viele versuchten. "Wenn wir eine App bauen würden, und du würdest den Code auf drei Abende aufteilen, dann hättest du ständig das Problem, dass du neuen Viewern erklären musst, wo wir gerade stehen. Da verlierst du viele Zuschauer, weil sie den Faden verlieren - oder dir nicht 100 Prozent der vier Stunden folgen können."
Biswangers Zuschauer können auf einer Karte zeigen, wo sie wohnen oder herkommen - was schon zu echten Freundschaften geführt hat. Außerdem bestimmen sie per Umfrage mit, was gezeigt werden soll. Fragen aus dem Chat werden aufgegriffen und beantwortet. So entsteht ein echtes Gefühl von Nähe und Community - und manchmal ein besonderer Moment(öffnet im neuen Fenster) .
Blind programmieren? Ja, sogar live!
"Das Highlight einer meiner Shows war ein blinder Programmierer" , erzählt Biswanger. "Für uns hat er sogar das Licht eingeschaltet - normalerweise arbeitet er komplett im Dunkeln. Im Vorfeld habe ich mich über einen Podcast informiert - darin sprach eine blinde Programmiererin über ihren Alltag, wie sie arbeitet und was sie macht."

Und dann die Überraschung: "Der Abend war fast vorbei, als plötzlich jemand zu uns in den Chat kam und schrieb: 'Das ist ja super, was ihr macht. Ich bin auch blind!' Und es stellte sich heraus: Es war Svenja, die Dame aus dem Podcast!" Solche Highlights sind nicht planbar - sie erzeugen Gänsehaut, gerade weil sie echt sind. Auch Svenja ist heute noch auf Twitch aktiv(öffnet im neuen Fenster) und streamt quasi blind.
Auf die Plätze, fertig, coden!
Solche Erfahrungen kann heute wirklich jeder machen, der möchte. Die Registrierung bei Twitch dauert rund zehn Minuten und mit Webcam und Headset ist man sofort dabei. Biswanger rät Neulingen, ihre Show auf anderen Plattformen zu bewerben, wo sie schon ein Netzwerk haben, zum Beispiel auf Linkedin. Und damit zu rechnen, erst einmal viel mit sich selbst zu reden, bis die Zuschauer kommen.
Eine Spezialtastatur, Code und ein Twitch-Publikum: Das sind die Zutaten für einen spannenden Abend - ganz ohne Politik, Shitshow oder Aufreger. Einfach freundlich, nahbar und neugierig.



