Tempolimit-Warner: Wenn der digitale Beifahrer nervt

Was würde man mit einem Beifahrer machen, der einen ständig darauf aufmerksam macht, zwei bis drei km/h zu schnell zu fahren? Und das bisweilen in Situationen, in denen ein ganz anderes Tempolimit gilt? Vermutlich würde die Fahrt im Streit enden und man würde künftig auf das Mitnehmen der Person verzichten. Doch leider schreibt die EU nun genau einen solchen digitalen Aufpasser in jedem Neuwagen vor. Und man muss ihn immer mitnehmen.
Das mag zwar gut gemeint sein, doch scheitert in der Praxis weiterhin an unzulänglicher Technik und falschen Daten. Wir haben mit Experten des ADAC darüber gesprochen, warum die Systeme noch so unzuverlässig sind und wie sie verbessert werden könnten.
Die EU schreibt neue Assistenten vor
Die Liste der vorgeschriebenen Assistenzsysteme in Pkw ist inzwischen lang(öffnet im neuen Fenster) . Schon seit 2014 sind die Antriebsschlupfregelung (ASR) und das Elektronische Stabilitätsprogramm (ESP) vorgeschrieben.
Zum 7. Juli 2024 kam eine ganze Reihe neuer Systeme hinzu(öffnet im neuen Fenster) : Notbremsassistent, Spurhalteassistent, intelligenter Geschwindigkeitsassistent (Tempolimitwarnung), adaptives Bremslicht (Notbremslicht), Unfalldatenspeicher (Black Box), Müdigkeitserkennung und Rückfahrassistent.
Solche Systeme sind in Pkw der Mittel- und Oberklasse seit längerem Standard oder gegen Aufpreis erhältlich. Neue Typgenehmigungen werden seit Juli 2022 nicht mehr ohne die genannten Systeme erteilt. Die delegierte EU-Verordnung 2021/1958(öffnet im neuen Fenster) bringt mit Blick auf den intelligenten Geschwindigkeitsassistenten jedoch zwei Neuerungen mit sich: Zum einen wird die damit verbundene Verkehrszeichenerkennung in allen Neuwagen Pflicht, zum anderen lässt sich die Warnung vor dem Überschreiten eines Tempolimits nicht mehr dauerhaft deaktivieren.
In der grundlegenden EU-Verordnung 2019/2144(öffnet im neuen Fenster) , welche die neuen Assistenten vorschreibt, heißt es zum Geschwindigkeitsassistenten lapidar: "Die Leistungsanforderungen müssen so konfiguriert sein, dass die Fehlerquote im realen Fahrbetrieb bei null liegt oder möglichst niedrig ist." Möglicherweise dachten die EU-Gesetzgeber im November 2019, als die Regelung beschlossen wurde, dass fünf Jahre später die Technik solch geringe Fehlerquoten garantieren könne.
Was schreibt die EU vor?
Zwar schreibt die Umsetzungsverordnung vom Juni 2021 detailliert vor, welche Voraussetzungen der intelligente Geschwindigkeitsassistent (engl.: Intelligent Speed Assistent/ISA) erfüllen muss. Doch in Erwägungsgrund 6 räumt die EU-Kommission ein: "Die geschwindigkeitsbezogenen Informationen, die für ISA-Systeme zur Verfügung stehen, können aufgrund fehlender, zerstörter, manipulierter oder anderweitig beschädigter Verkehrszeichen, falscher Positionierung der Verkehrszeichen, widriger Wetterbedingungen oder nicht harmonisierter, komplizierter und impliziter Geschwindigkeitsbegrenzungen unklar sein."
Darüber hinaus sollten die Fahrer "möglichst wenig durch Fehlalarme, wenn der ISA im praktischen Fahrbetrieb nicht optimal funktioniert, abgelenkt und gestört werden" . Daher sollten die Hersteller "geeignete Technologien in der Fahrzeugflotte einsetzen (...) und, soweit angemessen und notwendig, für einen angemessenen Teil der Lebensdauer des Fahrzeugs uneingeschränkten und einfachen Zugang zu Aktualisierungen des ISA bieten" .
Der EU-Kommission zufolge steht fest, "dass ISA, bei denen eine Kombination aus Kamerasystem, globalem Satellitennavigationssystem und aktuellen digitalen Karten zum Einsatz kommt, als neuester Stand der Technik gelten und die größte Leistung und Zuverlässigkeit im praktischen Fahrbetrieb aufweisen" .
Der Limiter ist nicht verbindlich
Anders als häufig berichtet(öffnet im neuen Fenster) , schreibt die EU-Kommission keinen Limiter vor, der bei einer Überschreitung des Tempolimits automatisch die Geschwindigkeit reduziert. Neben der Geschwindigkeitsbegrenzungs-Informationsfunktion (Speed Limit Information Function, SLIF) ist entweder eine Geschwindigkeitsbegrenzungs-Warnfunktion (Speed Limit Warning Function, SLWF) oder eine Geschwindigkeitsregelungsfunktion (Speed Control Function, SCF) erforderlich. Nach Informationen des ADAC setzen die Hersteller bislang nur die Warnfunktion ein. Wobei zahlreiche Autos bereits die Möglichkeit bieten, einen Limiter manuell zu aktivieren.
Insgesamt sind die Überlegungen nachvollziehbar. Doch in der Praxis funktionieren die Systeme nicht so zuverlässig, dass die Fehlerquote von null nur annähernd erreicht wird. Die Folge: Das Gebimmel im Auto nervt Fahrer zunehmend. Wenn es nicht zu umständlich ist, wird die Funktion gleich zu Fahrtbeginn deaktiviert. Doch woher kommen die häufigen Fehler? Und warum hat die EU die Funktion trotz der bekannten Probleme verpflichtend gemacht?
Diese Frage stellt sich auch der ADAC.
Wie gut sind die Assistenten?
"Wir haben schon vor mindestens fünf, sechs Jahren darauf hingewiesen(öffnet im neuen Fenster) , dass es da große offene Fragen gibt und die Performance je nach Hersteller sehr, sehr unterschiedlich ist" , sagt Arnulf Thiemel vom ADAC-Technikzentrum im Gespräch mit Golem.de und fügt hinzu: "Aus Sicht des ADAC ist die Zuverlässigkeit dieser ISAs im Moment nicht überzeugend."
Dafür gibt es aus Sicht des Verkehrsclubs "leider einen ganzen Strauß von Gründen" . Das fange damit an, dass nicht jedes Fahrzeug gleich gut sei, also es an den Herstellern liege. Neben der Erkennungsleistung der Kamera und des Systems spielt laut Thiemel die Kartenbasis eine wichtige Rolle. So seien die Karten zum einen nicht immer auf dem aktuellsten Stand, zum anderen versäumten es Fahrer, die Kartendaten zu aktualisieren.
Dabei muss man den Herstellern zugute halten, dass gesetzlich eine recht hohe Fehlerquote erlaubt ist. So heißt es in der Verordnung: "Die korrekte Geschwindigkeitsbegrenzung muss für mindestens 90 Prozent der Gesamtstrecke und für mindestens 80 Prozent der auf jeder der drei Straßenarten (Stadtstraßen, Außerortsstraßen sowie Autobahnen/Schnellstraßen/Straßen mit zwei getrennten Fahrbahnen) zurückgelegten Strecke ermittelt werden."
Die Prozentangabe gilt für die Strecke
Das bedeutet jedoch nicht, dass 90 Prozent der Schilder erkannt werden müssen. Denn die Prozentvorgabe gilt für die Länge der Strecke. Zudem müssen längst nicht alle Schilder erkannt werden, sondern lediglich diejenigen, die im Anhang zur Verordnung aufgeführt sind. Darin sind jedoch keine Tempolimits enthalten, die zeitlich eingeschränkt sind oder nur bei besonderen Fahrbahnsituationen wie Nässe oder für spezielle Fahrzeugtypen wie Lkw gelten. Sehr viele Tempolimits haben jedoch solche Einschränkungen.
Ebenfalls sind in dem Anhang keine elektronischen Wechselverkehrszeichen abgebildet, wie sie beispielsweise auf Autobahnen zur Steuerung des Verkehrs zum Einsatz kommen. Das heißt: Selbst wenn ein Fahrzeug die 90-Prozent-Regel erfüllt, heißt das nicht, dass es damit tatsächlich auf 90 Prozent der Strecke alle Schilder mit Geschwindigkeitsbegrenzung korrekt erfasst.
Wobei je nach Hersteller nach unserer Einschätzung durchaus gute Werte erzielt werden.
Manche Hersteller erkennen besser, andere schlechter
Das gilt beispielsweise für Oberklassehersteller wie Mercedes-Benz, BMW, Porsche oder Audi. Zuletzt lieferte die Verkehrszeichenerkennung im VW ID.7 ebenfalls gute Ergebnisse. Aber von einer Fehlerquote "bei null" sind die Systeme weit entfernt.
Beim getesteten Audi Q8 fiel uns auf , dass elektronische Tempolimits nicht erkannt wurden. Der Mercedes EQE interpretierte einmal ein Überholverbot für Lkw als ein Tempolimit für 60 km/h. Die Verkehrszeichenerkennung des Volvo EX30 zeigte auf der Autobahn einmal nur 40 km/h an, ein anderes Mal in einer geschlossenen Ortschaft 120 km/h.
Notorisch schlecht war jahrelang die Erkennung bei Tesla, die lediglich auf dem hinterlegten Kartenmaterial basierte. Bei einem Test des Model 3 im November 2023 tauchten im System weiterhin Tempolimits auf, obwohl es gar keine Schilder dafür gab. Möglicherweise waren die Limits in den Navigationsdaten hinterlegt, die nicht mehr aktuell waren.
Aufkleber als Verkehrszeichen interpretiert
Als ebenfalls sehr unzuverlässig erwies sich anfänglich die Erkennung beim chinesischen Anbieter Nio . Offensichtlich war die Bilderkennung noch nicht mit europäischen Verkehrszeichen trainiert worden. Am Anfang überraschte uns, dass auf Autobahnstrecken ohne Tempolimit plötzlich eine Geschwindigkeitsbegrenzung von 70 km/h erkannt wurde. Da dies bevorzugt beim Überholen von Lkw passierte, wurde uns klar: Das System hatte entsprechende Aufkleber am Heck als Verkehrszeichen interpretiert.
Doch selbst gut trainierte Systeme stoßen an ihre Grenzen, wenn Verkehrszeichen verschmutzt, verblasst oder verunstaltet sind. Umso wichtiger wären aktuelle Navigationsdaten, wobei es in der Verordnung heißt, dass "tatsächlich vorhandene explizite numerische Geschwindigkeitsbegrenzungszeichen stets Vorrang vor allen anderen im Fahrzeug verfügbaren Informationen haben" sollten.
Dennoch sieht der ADAC in der Aktualisierung von Kartendaten einen wichtigen Faktor, um die ISA-Systeme zu verbessern. Doch das ist leichter gesagt als getan. "Wir vermissen bei den Kartenanbietern frei und gut zugängliche Meldestellen, wo Nutzer neue oder falsch angegebene Tempolimits melden können. Das ist alles im Laufe der Jahre ziemlich eingedampft oder sogar ganz abgeschafft worden" , kritisiert Thiemel. Allerdings müssten solche Angaben auch überprüft werden, um Missbrauch zu verhindern.
Tempolimit für die andere Spur
Das betrifft beispielsweise den Klassiker, dass ein Verkehrszeichen erkannt wird, das für die eigene Fahrspur gar nicht gilt. Das kommt häufig an Autobahnabfahrten vor. Statt der erlaubten 120 km/h zeigt das System dann ein Limit von 40 km/h an. Würde das Auto automatisch die Geschwindigkeit drosseln, könnte es wegen der unvermuteten Bremsung zu Auffahrunfällen kommen.
Solche Situationen, etwa die berüchtigten Phantombremsungen bei Teslas , passieren häufig genug. Auch das Gegenteil, eine unvermutete Beschleunigung, erlebten wir bei Testfahrten schon.
Zwar heißt es in der Verordnung ausdrücklich: "Durch ISA-Systeme soll kein autonomes Fahren ermöglicht werden; sie sollen lediglich der Unterstützung des Fahrzeugführers dienen." Als Faustregel sollte gelten, "dass der Fahrzeugführer stets für die Einhaltung der einschlägigen Verkehrsregeln verantwortlich ist" . Doch wenn die Funktion stets aktiviert sein soll, wären Phantombremsungen beim SCF-System wohl unvermeidlich.
Ein weiteres Problem sind die Kartendaten.
Wie aktuell sind die Kartendaten?
Ein weiteres Problem: Verschiedene Hersteller nutzen die Kartendaten, um möglichst vorausschauend zu fahren und die Geschwindigkeit schon vor Erreichen des Tempolimits anzupassen. Ist jedoch eine falsche Angabe hinterlegt, können Fahrer das auf die Distanz hin kaum überprüfen.
Doch bis ein neues Tempolimit im Navigationssystem eines Autos ankommt, kann es lange dauern. Ein Kartenupdate für Geschwindigkeitslimits erfolge "bisher typischerweise in Abständen von grob 1,5 Jahren" , teilte Daniel Rublack, Sprecher der Bundesanstalt für Straßenwesen (BASt), auf Anfrage von Golem.de mit und erläuterte: "Von der Änderung des Geschwindigkeitslimits auf der Straße, bis zur digitalen Erfassung und Umsetzung in die fahrzeugspezifische Navigationssoftware über den digitalen Kartenlieferanten bis zum Fahrzeughersteller und dem Aufspielen der Software im Fahrzeug."
Aktuell dürften in den Fahrzeugen vor allem die Kartendaten von Google, Tomtom, Here und Apple zum Einsatz kommen. Um den Aktualisierungsprozess zu beschleunigen, setzt der ADAC unter anderem auf die Schwarmintelligenz vernetzter Fahrzeuge. So nehme der VW Golf seit Ende 2019 mit seinen Kameras die Umgebung auf, um daraus hochgenaue Kartendaten zu ermitteln, die für das automatisierte und autonome Fahren genutzt werden könnten. Das gleiche Konzept verfolgen andere Hersteller sowie Kartendienste seit gut zehn Jahren .
Vor der Fahrt wird die Karte aktualisiert
Thiemel verweist darauf, dass es bei manchen Audi-Modellen möglich sei, sich vor Fahrtbeginn die aktuellen Karten ins Auto herunterzuladen. Es gebe aber noch keine Informationen der Hersteller, wann solche per Schwarmintelligenz aktualisierten Karten flächendeckend auf die Fahrzeuge verteilt würden.
Eine weitere Möglichkeit, an sichere Tempolimits zu kommen, wird zwar in der Verordnung nicht erwähnt, ist jedoch in der Praxis verfügbar. So nutzt die bundeseigene Autobahn GmbH den Dienst C-ITS(öffnet im neuen Fenster) , was für "kooperative intelligente Verkehrssysteme" steht. Dabei kommuniziert die Infrastruktur, etwa Schilder oder fahrbare Absperrtafeln, über den WLAN-Standard 802.11p oder ITS-G5 mit den Fahrzeugen .
Doch auch dabei kochen die Hersteller bislang ihr eigenes Süppchen. "Die Warnungen, die ein BMW im Moment verbreitet, kann nicht einmal ein Mercedes empfangen, der ebenfalls mit 5G oder 4G arbeitet" , kritisiert Thiemel und fügte hinzu: "Es kann nicht sein, dass jetzt einzelne Hersteller eigene Quasi-Standards installieren, von denen die anderen nichts haben. Das wäre dann wiederum ein Zwang durch die Hintertür."
Aktuell scheint die Lösung des Fehlalarmproblems darin zu bestehen, die Funktion möglichst komfortabel auszuschalten.
Assistenten werden abgeschaltet
Die EU-Verordnung macht dazu wenig Vorgaben. Es heißt lediglich: "Nach einer manuellen Deaktivierung des ISA muss es dem Fahrzeugführer möglich sein, ihn mit nicht mehr als der Anzahl von Handgriffen wieder zu aktivieren, die zur Deaktivierung erforderlich waren."
Bei Mercedes gibt es dem ADAC zufolge inzwischen auf dem Zentraldisplay oben links ein Verkehrszeichenschild. Damit lassen sich die Warnungen deaktivieren. Bei BMW reicht es aus, die Set-Taste länger zu drücken. Bei Marken wie Hyundai oder Kia gibt es auf dem Lenkrad frei belegbare Tasten, mit der sich die Warnfunktion ausschalten lässt.
Doch das kann eigentlich nicht die Lösung des Problems sein. "Die Systeme müssen einfach besser werden" , fordert daher Manuel Griesmann, Referent Fahrzeugtechnik, "weil ein abgeschaltetes Assistenzsystem Sicherheitspotenzial verschenkt" . Die vorhandenen Daten müssten genutzt und gebündelt werden und möglichst aktuell dann praktisch in das Material einfließen.
Diesen Datenaustausch sieht eine EU-Verordnung vor(öffnet im neuen Fenster) , die im Dezember 2014 erlassen wurde. Darin heißt es: "Straßenverkehrsbehörden, Straßenbetreiber, Hersteller digitaler Karten und Dienstanbieter (...) arbeiten zusammen, um sicherzustellen, dass etwaige Ungenauigkeiten der statischen Straßendaten unverzüglich an die Straßenverkehrsbehörden und Straßenbetreiber, von denen die Daten stammen, gemeldet werden." Dieses Konzept scheint in der Praxis nicht richtig zu funktionieren.
Noch besser wäre es natürlich, wenn die Erkennungssysteme so gut wären, dass ein Rückgriff auf die Karten nicht notwendig wäre. "Als ADAC würden wir uns sehr freuen, wenn die Hersteller Eigenverantwortung zeigen und sagen: 'Wir machen die Systeme besser mit allen Möglichkeiten, die wir haben.' Und nicht erst warten, bis aus Brüssel oder aus Berlin ein Gesetz dazu kommt" , sagt Thiemel.
Generell spricht sich der ADAC gegen eine "überbordende Regelungsflut" aus. "Aber wenn es nicht funktionieren sollte, und wir werden es ja auch weiterhin testen, gerade die ISAs, dann muss es wegen mir eine Vorschrift sein" , sagt Thiemel.



