Teilchenbeschleuniger: Mögliches neues Boson weist auf fünfte Fundamentalkraft hin

Gibt es eine fünfte Fundamentalkraft? Das Standardmodell der Physik kommt derzeit mit vier Kräften aus. Möglicherweise existiert aber neben Gravitation, Elektromagnetismus sowie der starken und der schwachen Kernkraft noch eine fünfte Kraft. Das legen zumindest Experimente(öffnet im neuen Fenster) am MTA Atomki, dem Kernforschungszentrum der Ungarischen Akademie der Wissenschaften(öffnet im neuen Fenster) , nahe.
Die neuen Erkenntnisse lieferte ein Van-de-Graaff-Beschleuniger(öffnet im neuen Fenster) , der Teilchen auf 5 Megaelektronenvolt beschleunigen kann(öffnet im neuen Fenster) , weniger als ein Millionstel der Energie im LHC. Es ist ein einfaches Gerät, das Ladungen durch Reibung von Metall an einem motorbetriebenen Riemen trennt. Er funktioniert damit nach dem gleichen Prinzip wie der Westinghouse Atom Smasher(öffnet im neuen Fenster) , der 1936 vom US-Konzern Westinghouse Electric zu Forschungszwecken gebaut wurde(öffnet im neuen Fenster) und die gleiche Leistung erreichte.
Einfaches Experiment mit unerwartetem Ergebnis
In einem Experiment schossen die Forscher Protonen mit einer Energie von knapp über einem Megaelektronenvolt auf Lithium-7-Atome. Wenn diese kollidieren und miteinander reagieren, entstehen Beryllium-8-Atome in einem stark angeregten Energiezustand. Beryllium-8 ist ein sehr instabiles Atom. Der Kern soll eine Hantelform haben, die aus zwei aneinander gebundenen Heliumkernen besteht. Die Bindung ist aber so schwach, dass der Kern fast sofort in diese beiden Teile zerfällt, mit einer Halbwertzeit von weniger als einer Zehntel Femtosekunde.
Die freigesetzte Bindungsenergie des zerfallenden Atomkerns liegt im Bereich von 18 Megaelektronenvolt. Selbst für Kernzerfallsprozesse ist das eine sehr große Energiemenge, die meisten radioaktiven Zerfälle spielen sich im Bereich von wenigen Megaelektronenvolt oder Kiloelektronenvolt ab. In dem Energiebereich, den die Forscher untersuchten, entstehen beim Zerfall des Atoms auch spontan Paare von Materie- und Antimaterieteilchen, Elektronen und Positronen, die anschließend mit hoher Geschwindigkeit auseinanderfliegen.
Die Forscher beobachteten die entsprechenden Winkel: Spielt sich der Prozess innerhalb des Atomkerns ab, sollte praktisch keines dieser Paare in einem sehr großen Winkel auseinanderfliegen. Aber in dem Bereich oberhalb von 140 Grad fanden sich unerwartet viele Messungen. Sobald der Beschleuniger die Protonen auf 0,8 Megaelektronenvolt oder 1,2 Megaelektronenvolt beschleunigte, verschwand der Effekt wieder. Im Bereich dazwischen war das Signal deutlich. Mit 6,8 Standardabweichungen gibt es nur eine Chance von eins zu fünf Billionen, dass das Signal durch zufälliges Rauschen der Messinstrumente zustande kam. Das Signal wird damit erklärungsbedürftig.
Hinweise auf ein neues Teilchen
Bei der Auswertung des Experiments(öffnet im neuen Fenster) , dessen Ergebnisse schon im vergangenen Jahr veröffentlicht wurden, sticht inzwischen eine mögliche Erklärung hervor. Diese hat zumindest allen theoretischen Überlegungen und Vergleichen mit älteren Experimenten standgehalten und stimmt besser mit den restlichen Messdaten überein. Demnach käme es zur Entstehung eines neuen Teilchens, eines noch unbekannten Bosons, mit einer Masse von knapp 17 Megaelektronenvolt. Das Boson zerfiele dann kurz nach seiner Entstehung außerhalb des Atomkerns in Elektronen und Positronen. Diese Paare könnten dann in jedem beliebigen Winkel auseinanderfliegen.
Zur Gruppe der Bosonen gehören Teilchen, die Kräfte vermitteln, etwa Photonen, also Lichtteilchen, oder Gluonen, die für die starke Kernkraft verantwortlich sind. Sollte sich das neue Boson bestätigen, muss es auch eine ihm entsprechende fünfte Fundamentalkraft geben. Eine Erweiterung des Standardmodells könnte auch noch mit dem Rest der bekannten Physik konsistent sein.
Bis zu einer neuen Physik ist es aber noch ein langer Weg. Die Forscher schreiben selbst, dass zunächst alle möglichen konventionellen Alternativen untersucht werden müssten, inklusive möglicher Fehlfunktionen der Messgeräte. Zuvor muss das Phänomen also noch mit anderen Geräten repliziert und untersucht werden. Außerdem muss das Boson, falls es existiert, noch auf andere Weise erzeugt werden.
Weitere Untersuchungen werden noch Jahre dauern
Die Forscher glauben, dass der ebenso energiereiche Zerfall von Bor-10-Atomen unter bestimmten Bedingungen auch das neue Boson erzeugen könnte. Außerdem sollte sich das Boson mit anderen Teilchenbeschleunigerexperimenten direkt erzeugen und messen lassen.
Die Forscher listen eine ganze Reihe von Experimenten auf, die in den nächsten Jahren ähnliche Bedingungen untersuchen werden wie bei der Erzeugung des vermuteten neuen Bosons. Das Boson wäre damit in einem Energiebereich, der bisher noch nicht näher in Teilchenbeschleunigern untersucht wurde. Aus den bekannten Daten der älteren Experimente lässt sich immerhin schließen, dass keines davon in der Lage war, das neue Boson nachzuweisen. Mit ihrem Experiment untersuchten die ungarischen Forscher also einen blinden Fleck.
Einige der für eine genauere Untersuchung des Phänomens nötigen Anlagen existieren bereits, andere werden in den nächsten Jahren in Betrieb gehen. Sie waren vor allem für die Suche nach möglichen Teilchen der dunklen Materie in ähnlichen Energiebereichen geplant, weshalb sie nicht eigens für die Untersuchung dieses Bosons gebaut werden müssen. Abschließende Ergebnisse sind aber erst in den 2020er-Jahren zu erwarten.



