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Start-ups: Der Osten erfindet sich neu

Start-ups spielen beim wirtschaftlichen Aufholprozess in Ostdeutschland eine zunehmende Rolle - Game Changer sind sie bisher aber nicht.
/ Carolin Wilms
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Äußerst innovativ: In den östlichen Bundesländern werden viele Start-ups gegründet. (Bild: Martin Wolf / Golem.de)
Äußerst innovativ: In den östlichen Bundesländern werden viele Start-ups gegründet. Bild: Martin Wolf / Golem.de

Sie kommen in der Dunkelheit. Mit einem Messer schlitzen sie die Planen von Lkws auf. Plötzlich wird es hell und laut - der Diebstahl wird vereitelt, die Täter rennen davon. Spedition und Sicherheitsdienste wurden bereits benachrichtigt. Die Technik dahinter stammt vom Start-up Truck Norris(öffnet im neuen Fenster) , das sich Anfang 2022 mit dem Magdeburger Start-up Infinite Devices zusammengeschlossen hat - zwei der innovativen Neugründungen in Sachsen-Anhalt, in die Hoffnung für die ostdeutsche Wirtschaft gesetzt wird.

Die Daten, die die Mikrofone und Sensoren beim Aufschlitzen der Planen erfassen, werden über die eigene Open-Source-IoT-Plattform ausgewertet, die um eine KI-Anwendung zur Geräuscherkennung erweitert wurde. Auf diese Weise soll der Schaden, der durch Frachtdiebstahl von Lkws entsteht, verringert werden.

Entrepreneurship und Wissen

Nach dem wirtschaftlichen Kahlschlag der Nachwendejahre wurden erst in Berlin und später in den östlichen Bundesländern Start-ups gegründet. Heute stellen sie einen aufstrebenden Wirtschaftsfaktor im Osten dar.

Wo ihnen das aus welchen Gründen gelingt, haben Forscher der Friedrich-Schiller-Universität Jena in einer Studie (öffnet im neuen Fenster) herausgefunden: Jene Regionen, in denen es vor der politischen Wende einen hohen Anteil an Selbstständigen und akademisch qualifizierten Arbeitskräften gab, sind durch besonders intensive Gründungsaktivitäten gekennzeichnet.

Industriezentren und Berlin als Hotspots

Folglich sind die meisten Start-ups in den früheren Industriezentren von Sachsen und Thüringen sowie im Großraum Potsdam in Brandenburg zu finden. Berlin nimmt als deutscher Hotspot eine besondere Position ein: Sein Start-up-Ökosystem strahlt zwar über die Stadtgrenzen aus, ist aber nicht stellvertretend für die ostdeutsche Szene.

Denn in Berlin sind im Jahr 2020 fast ein Viertel aller deutschen Neugründungen entstanden, wie ein Report von Startupdetector (PDF)(öffnet im neuen Fenster) aus dem Jahr 2020 zeigt. In allen ostdeutschen Bundesländern zusammen entstanden in derselben Zeit sechs Prozent - fast so viele wie in Hessen. Zudem wurden laut einer Analyse des Bundesverbandes Deutsche Startups in Berlin, die Golem.de vorliegt, 22 der 31 deutschen Einhörner gegründet - also Start-ups mit einer Bewertung von über einer Milliarde US-Dollar. Danach folgt München mit sechs.

In den übrigen Bundesländern gibt es bislang nur wenige Einhörner, wie etwa Staffbase(öffnet im neuen Fenster) in Sachsen. Das Start-up ist eine Ausgründung der TU Chemnitz(öffnet im neuen Fenster) , seine Gründer haben in Sachsen studiert. Das Start-up bietet eine Plattform für interne Mitarbeiterkommunikation.

Der frühere Ostbeauftragte der Bundesregierung, Christian Hirte, sagte im Jahr 2018 in einem Zeitungsinterview, dass es heute nirgendwo auf der Welt eine größere Dichte an privaten Forschungseinrichtungen als in Mitteldeutschland gebe. Zudem bringen Universitäten und außeruniversitäre Forschungseinrichtungen, wie etwa die 19 Fraunhofer- oder die 23 Max-Planck-Institute im Osten regelmäßig Erfindungen hervor. So schieben auch Bund und Länder Innovation an, da es im Osten kaum unternehmenseigene Forschungs- und Entwicklungsabteilungen gibt.

Forschungsnah gründen mit staatlichen Fördertöpfen

Das entfaltet auch außerhalb von Chemnitz Wirkung. Während etwa in Westbrandenburg 39 Prozent der Start-ups aus Forschungseinrichtungen oder Hochschulen heraus oder durch deren Unterstützung gründen, liegt der Wert deutschlandweit bei 27 Prozent, wie eine Regionalstudie (PDF)(öffnet im neuen Fenster) zeigt.

Staatliche Förderungen und Venture-Capital-Töpfe der Bundesländer sind aus dem Start-up-Ökosystem des Ostens nicht wegzudenken. Die Politik hat offenbar verstanden, dass es ohne vorerst nicht geht: Das Projekt Best Practice Gründer-Öko-System solle attraktive Gründungsumfelder in den "neuen Bundesländern" schaffen, verspricht der Jahresbericht zum Stand der deutschen Einheit(öffnet im neuen Fenster) aus dem Jahr 2021.

Eric Weber, Gründer und CEO des Leipziger Inkubators Spinlab(öffnet im neuen Fenster) , führt das mangelnde Privatvermögen im Osten als Grund für die notwendige staatliche Unterstützung an.

Cluster im Osten

Die Fokussierung auf besondere Forschungsgebiete hat verschiedene Cluster in den vergangenen Jahren hervorgebracht: In und um Potsdam sind etwa aus dem Science Park(öffnet im neuen Fenster) mit Universität und außeruniversitären Forschungseinrichtungen wie dem Hasso-Plattner-Institut Start-ups entstanden. Laut der Start-up-Studie sind diese besonders in der Software- und Technologiebranche aktiv. Das Start-up Biotx.ai(öffnet im neuen Fenster) etwa will mit seiner KI-Plattform komplexe Muster in genomischen Daten erkennen und so durch präzise Vorhersagen zur Wirksamkeit von neuen Therapien die Zulassungszeit von Medikamenten verkürzen.

Auch im Bundesland Mecklenburg-Vorpommern entwickeln sich Start-ups aus dem Hochschulumfeld. In Mitteldeutschland (Sachsen-Anhalt, Sachsen, Thüringen) arbeiten mehr Start-ups in den Clustern Chemie/Pharma und Automobile/Mobilität als im deutschlandweiten Vergleich, wie eine bisher unveröffentlichte Regionalauswertung des Startup-Verbandes und PwC Deutschland aus dem Jahr 2021 zeigt. Die Geschäftsinhalte der meisten mitteldeutschen Start-ups sind dabei in der Technologieentwicklung/-produktion zu finden.

Wachstum mit mittelbarer Zuordnung

Die Wirtschaftskraft von Start-ups soll der Berliner Startup Report vom März 2022 (PDF)(öffnet im neuen Fenster) zeigen, der eingangs erklärt, dass Start-ups in den amtlichen Statistiken nicht eindeutig zugeordnet werden. Durch die Zurechnung der Berliner Start-ups zur Digitalwirtschaft gab der Report an, dass diese in der Zeit von 2008 bis 2020 dreimal so schnell gewachsen sei wie die übrige Berliner Wirtschaft: Jeder sechste Arbeitsplatz dort sei neu entstanden und knapp 18 Prozent des Berliner Wirtschaftswachstums seit 2014 habe die Digitalwirtschaft erbracht.

Der Standort zieht weiteres Geld an: Das Investitionsvolumen der Berliner Start-ups hat sich im Jahr 2021 mit neun Milliarden US-Dollar im Vergleich zum Vorjahr mehr als verdreifacht, wie der Report berichtet.

Marathon bis zum Pay-back

Börsennotierte M- beziehungsweise DAX-Grown-ups wie Zalando und Hello Fresh haben ihre Konzernzentralen in Berlin. Im übrigen Osten gibt es neben Verbio in Sachsen-Anhalt nur wenige. Noch. Die Hoffnung ist, dass aus den Start-ups in den anderen ostdeutschen Bundesländern eines Tages Grown-ups werden, die ihre Konzernzentrale im Osten behalten, dort ihre Steuern zahlen und damit einen Pay-back für die staatliche Anschubfinanzierung und die Wissenslandschaft leisten.

Bislang ist neben einigen Energieversorgern im Osten die einzige Konzernzentrale unter den 500 größten deutschen Unternehmen die der Jenoptik in Jena. Damit zahlt der Thüringer Technologiekonzern nicht nur Gewerbe- sondern auch Körperschaftssteuer - anders als die verlängerten Werkbank-Standorte der Automobilhersteller im Osten.

Große Flächen, vergleichsweise niedrige Mieten und Infrastruktur neueren Datums sind günstige Voraussetzungen, um in Ostdeutschland Beschäftigung zu schaffen. Durch die Start-ups entstehen auch mittelbare Folgearbeitsplätze. CEO Weber schätzt, dass eine fünfstellige Zahl von Stellen allein in der Stadt Leipzig auf diese Weise entstanden sei.

Ein Game Changer sind die Start-ups im Osten bisher nicht, doch ist der wirtschaftliche Aufholprozess in vollem Gang. Um die historisch bedingten strukturellen Nachteile zu kompensieren, scheinen die Start-ups bis auf weiteres nicht auf die staatlich unterstützte Forschungslandschaft und die finanzielle Förderung verzichten zu können.


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