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Rotierende Massen: Warum es für die Energiewende keine neuen Kraftwerke braucht

Kraftwerksturbinen besitzen Trägheit, die Frequenzschwankungen im Stromnetz abfängt und es dabei stabilisiert. Das ist elegant, aber nicht alternativlos.
/ Mario Petzold
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Das Kraftwerk benötigt man nicht, Hauptsache es rotiert. (Bild: ABB)
Das Kraftwerk benötigt man nicht, Hauptsache es rotiert. Bild: ABB

Als in ganz Spanien der Strom ausfiel, gerieten die rotierenden Massen in Verdacht, besser gesagt: ihr Fehlen in einem Stromnetz, das von Photovoltaik dominiert wird. Als Deutschlands neue Bundeswirtschaftsministerin Katherina Reiche in einem Vortrag ihren Plan für das zukünftige Stromnetz vorstellte, ging es darin um neue Gaskraftwerke, wegen der rotierenden Massen.

Und als im dänischen Parlament der Antrag der rechten Oppositionspartei Danmarksdemokraterne abgelehnt(öffnet im neuen Fenster) wurde, das dortige Verbot von Atomkraft aufzuheben, aber immerhin beschlossen wurde, deren Potenzial zu prüfen, machten einige Medien eine ganz eigene Meldung daraus. Der konservative Telegraph(öffnet im neuen Fenster) veröffentlichte zum Beispiel die Schlagzeile, dass Dänemark nun Atomkraftwerke bauen müsse, weil nur deren rotierende Massen ihr von Windkraft dominiertes Stromnetz stabilisieren könnten.

Kurz innehalten

Sicher ist, dass die rotierende und träge Kraftwerksturbine in Kohle-, Gas, Atom- und Wasserkraftwerken für die Stromnetzfrequenz verantwortlich ist und effizient Schwankungen abfängt. Benötigt ein Netz mehr Strom als verfügbar, rotieren diese Massen langsamer, die Frequenz sinkt minimal und es bleibt Zeit, um die Kraftwerksleistung zu erhöhen, weitere Energiequellen zuzuschalten oder Verbraucher abzuschalten. Umgekehrt natürlich ebenso. Ein durchdachtes und verlässliches System.

Gleichzeitig drängen sich mehrere Fragen auf, denn die Problematik, dass immer mehr Großkraftwerke vom Netz gehen, kommt nicht überraschend, sondern hat sich seit etwa 20 Jahren angekündigt. Wurde die Thematik ignoriert oder war schlicht zu komplex, um über die vielen Jahre eine Lösung zu finden?

Zudem gibt es bereits Stromnetze, in denen über Stunden hinweg ausschließlich erneuerbare Energien eingespeist werden, ohne dass konventionelle Kraftwerke zur Stromproduktion beitragen. In Kalifornien, Schottland oder eben Dänemark ist das immer wieder der Fall. In Deutschland liegt die Quote regelmäßig bei 80 Prozent aus Wind- und Solarkraft. Gelingt das nur mit externer Hilfe der Nachbarländer?

Kurzer Weg

Wäre es wirklich unmöglich, eine entsprechende elektronische Schaltung zu bauen, die das Stromnetz genauso stabilisieren könnte, läge zudem ein ganz anderer Lösungsweg auf der Hand. Man könnte eine rotierende Masse bauen, ganz ohne Kraftwerk. Man lässt sie mit 50 Umdrehungen pro Sekunde rotieren und treibt sie über den Strom aus dem Netz oder wahlweise mit einer Batterie an.

Die nötigen Dimensionen sind schnell ausgerechnet. Ein massiver Stahlzylinder mit 4 m Länge und dem identischen Durchmesser wiegt knapp 400 Tonnen und hätte bei 50 Umdrehungen pro Sekunde ein beachtliches Trägheitsmoment. Je nachdem, wie stark er abgebremst würde, wie hoch somit das Drehmoment wäre, ergäbe sich eine Leistung im Bereich von hunderten Megawatt.

Das entspricht einem großen Gaskraftwerk und man muss nicht viel recherchieren, um herauszufinden, dass der Bau eines solchen Generators weniger kosten würde als die mehreren Hundert Millionen für eine Gasturbine oder die veranschlagten Milliarden für ein Atomkraftwerk. Einmal in Bewegung, ließe sich die Rotation zudem mit wenig Energieeinsatz aufrechterhalten.

Netzbetreiber bauen um

Bei Amprion(öffnet im neuen Fenster) , Tennet, 50Hertz und TransnetBW müsste man wissen, wie ein stabiles Netz aussehen muss. Die vier deutschen Übertragungsnetzbetreiber stehen in der Verantwortung, Bedarf und Einspeisung im Gleichgewicht zu halten. Hier müssen die Schwankungen rund um die Netzfrequenz von 50 Hertz ausgeglichen werden, bevor sich beispielsweise Wechselrichter abkoppeln, um keinen Schaden zu nehmen.

Das gelingt zum Beispiel mit Drosselspulen. Die werden in Umspannwerken zugeschaltet, wenn die Spannung zu hoch wird. Für den gegenteiligen Effekt sind Kondensatorbänke im Einsatz. So lässt sich die Spannung durch Zuschaltung dieser Komponenten stabilisieren.

Neben dieser abgestuften und statischen Lösung gibt es ein dynamisches System, das zu großen Teilen dem entspricht, was auch große Kraftwerke zur Netzstabilität beitragen. Mit leistungselektronischen Kompensationsanlagen, kurz Statcom, kann die Spannung im Netz stufenlos angepasst werden. Mit ihnen können Netzanpassungen in einigen Millisekunden erfolgen.

Eine rotierende Masse

Die nötige Trägheit, um das Stromnetz flexibel zu machen und Zeit für eine Reaktion bei Leistungsschwankungen zu gewinnen, fehlt diesen Systemen jedoch. Dafür kommt der rotierende Phasenschieber(öffnet im neuen Fenster) zum Einsatz.

Er dreht sich synchron zur Netzspannung und ist auch sonst technisch vergleichbar mit dem Generator in einem Großkraftwerk. Allerdings erhält er seine Energie nicht aus einer Kraftwerksturbine, sondern nutzt den Strom aus dem Netz.

Allein dieser Aufbau wirkt bereits dämpfend. Verstärkt wird der Effekt durch eine Schwungmasse, die je nach Anforderungen zwischen wenigen und einigen Hundert Tonnen schwer ist. Das bewährte Prinzip, um Frequenzschwankungen aufzufangen, bleibt hier also unberührt. Nur das Kraftwerk dazu wurde weggelassen.

Rein elektronischer Ansatz

Neben der Trägheit bei der Rotation lassen sich zudem Momentanreserven nutzen, die in Kombination mit einer netzbildenden Regelung ebenfalls die Netzfrequenz stabilisieren können.

Dabei kann es sich um Batteriespeicher handeln oder um erneuerbare Energiequellen, die mit einem netzbildenden Wechselrichter ausgestattet sind. Statt sich der Netzfrequenz anzupassen, kann dieser selbst auf die nötigen 50 Hertz ausbalancieren.

In Leverkusen ist seit 2024 eine solche Anlage in Betrieb. Entscheidend ist dabei insbesondere die Programmierung des Wechselrichters, um auf Schwankungen oder bei einem Stromausfall korrekt reagieren zu können.

Innovationen nötig

Sowohl das Fraunhofer-Institut für Solare Energiesysteme(öffnet im neuen Fenster) als auch die ETH Zürich(öffnet im neuen Fenster) haben zu passenden Algorithmen geforscht, die jetzt im praktischen Einsatz sind.

Im kleinen Rahmen ist das Prinzip längst erprobt. Geeignete Wechselrichter können sich vom Stromnetz trennen und mit einem Batteriespeicher und der Solaranlage zumindest das eigene Haus ebenfalls mit Wechselstrom versorgen.

Parallele Lösungen

In einem europaweiten Netz, in dem Überkapazitäten und Unterversorgungen ausgeglichen werden sollen, ist natürlich ein etwas höherer technischer Aufwand nötig. An den rotierenden Massen wird man also nicht so schnell vorbeikommen, zumal ihre Trägheit seit Jahrzehnten das Stromnetz aufrechterhält. Ein Gas-, Kohle- oder Atomkraftwerk benötigt man dafür aber nicht.

Am Ende dürften die verschiedenen Techniken ohnehin kombiniert werden. In der Regel gibt es für jede Anlage ein bis zwei Absicherungen. Was bietet sich da besser an, als mechanische und elektronische Systeme nebeneinander zu nutzen?


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