Netzneutralität: Wie die EU Spezialdienste und Zero Rating bändigen will

Wie soll die umstrittene EU-Verordnung zur Netzneutralität von den Providern konkret umgesetzt werden? Um diese schwierige Frage zu beantworten, hat das Gremium Europäischer Regulierungsstellen für elektronische Kommunikation (Gerek, engl. Abkürzung Berec) nun einen ersten Entwurf vorgelegt(öffnet im neuen Fenster) . Das 43-seitige Papier ( PDF(öffnet im neuen Fenster) ) versucht, aus den schwammigen Formulierungen der Verordnung konkrete Vorgaben abzuleiten, wie die nationalen Regulierungsbehörden einen möglichst diskriminierungsfreien Zugang zum Internet gewährleisten sollen.
Der im vergangenen Oktober beschlossene Gesetzestext gibt den Telekommunikationsanbietern einige Möglichkeiten, den Datenverkehr im Netz nach ihren kommerziellen Vorstellungen zu gestalten. Regulierer wie die Bundesnetzagentur sollen aber sicherstellen, dass die Netzbetreiber ausreichende Netzkapazität für die Bereitstellung von diskriminierungsfreien Internetzugangsdiensten von hoher Qualität gewährleisten, "deren allgemeine Qualität nicht deshalb beeinträchtigt sein sollte, weil andere Dienste als Internetzugangsdienste mit einem spezifischen Qualitätsniveau bereitgestellt werden" . Zentrale Themen in dem Entwurf des Gerek sind daher die Kontrolle von Spezialdiensten, das Trafficmanagement sowie die Möglichkeit für ein Zero Rating.
Spezialdienste nicht als Ersatz für Internetzugang
So sollen nach den Vorstellungen des EU-Gremiums die nationalen Regulierer recht genau hinschauen, bevor sie einen Spezialdienst akzeptieren. Demnach müssen die Provider auflisten, welche technischen Anforderungen an die Übertragungsqualität der Spezialdienst erfordert, beispielsweise was Latenz, Jitter und Paketverluste betrifft. Entscheidend für die Zulässigkeit eines Spezialdienstes ist die Frage, ob dieser nicht auch über den "normalen" Internetzugang erbracht werden kann. Die Regulierungsbehörden sollen verhindern, dass Spezialdienste genutzt werden, um die Vorgaben für ein diskriminierungsfreies Trafficmanagement zu umgehen.
Als Beispiele für solche Spezialdienste nennt das Gerek mobile Internettelefonie (VoLTE), lineares Internetfernsehen mit speziellen Qualitätsanforderungen oder Gesundheitsdienste in Echtzeit wie Telechirurgie. Die Verordnung erwähnt zudem Dienste, die im "öffentlichen Interesse" liegen oder neuartige Maschine-zu-Maschine-Kommunikationen. EU-Digitalkommissar Günther Oettinger hatte als Beispiel für solche Dienste meist Telematik-Anwendungen für das autonome Fahren genannt.
Spezialdienste vor allem für Geschäftskunden
Nach Ansicht des Gerek sind Spezialdienste vor allem für Geschäftskunden interessant. Solche Unternehmensdienstleistungen umfassen demnach ein großes Anwendungsgebiet und müssten von Fall zu Fall eingeschätzt werden. Dazu gehören laut Gerek auch VPN-Netzwerkdienste für Unternehmen, bei denen unterschiedliche Standorte über VPN-Verbindungen miteinander verknüpft werden. Würden diese parallel zum normalen Internetzugang angeboten, zählten sie zu den Spezialdiensten.
Doch wie sollen die Regulierer verhindern, dass es aufgrund zu vieler Spezialdienste zu einer Verschlechterung des normalen Internetzugangs kommt? Laut Gerek dürfen Spezialdienste nur angeboten werden, wenn die Netzwerkkapazität des normalen Internetzugangs nicht darunter leidet. Das heißt, Latenzen, Jitter oder Bandbreite dürfen durch den Spezialdienst nicht beeinträchtigt werden. Um dies zu gewährleisten, könne beispielsweise zusätzlich in die Infrastruktur investiert werden.
Schlupfloch für die Provider
Nach Ansicht des Gerek dürfen Spezialdienste daher nicht angeboten werden, wenn bei begrenzten Kapazitäten der normale Internetzugang beeinträchtigt würde. Die Verordnung schütze die Qualität des normalen Internetzugangs und nicht die der Spezialdienste, schreibt das Gremium. Daher müssten die Provider nachweisen, wie sie die Kapazität der Internetzugänge garantierten.
Allerdings lässt das Gerek den Providern ein Schlupfloch: Demnach wird die Netzneutralität nicht verletzt, wenn der Endkunde über mögliche Einschränkungen durch Spezialdienste informiert wurde und eine vertraglich festgelegte Mindestgeschwindigkeit nicht unterschritten wird. Die Aktivierung von Spezialdiensten dürfe allerdings nicht dazu führen, dass die Internetzugänge anderer Kunden ebenfalls darunter litten.
Letzteres gilt wiederum nicht für den Mobilfunk. Aufgrund des begrenzten Datenvolumens in einer Funkzelle müssen Nutzer damit rechnen, dass ihnen der Spezialdienst eines anderen Kunden die Daten "wegsaugt". Dies soll laut Gerek jedoch nur erlaubt sein, wenn die Auswirkungen "unvermeidlich, minimal und von kurzer Dauer" sind. Die Regulierungsbehörden sollen einschreiten, wenn die Internetzugänge aufgrund der Spezialdienste dauerhaft beeinträchtigt werden.
Zero Rating nicht generell verboten
Genau hinschauen sollen die Behörden auch beim sogenannten Zero Rating. Bei dieser Praxis werden bestimmte Anwendungen nicht auf das Datenvolumen angerechnet. Gerek untersagt das Zero Rating nicht generell, allerdings dann, "wenn alle Anwendungen beim Erreichen eines Datenvolumens geblockt (oder gedrosselt) werden, mit Ausnahme der Zero-Rating-Anwendungen" . Die Einschränkung nach bestimmten Datenkategorien wie Musik oder Videos hält Gerek allerdings für möglich.
Das Gremium sieht es allerdings sehr kritisch, wenn ein Provider beispielsweise nur einen bestimmten Musikdienst auf diese Weise bevorzugt behandelt. Dies würde die Wahlfreiheit der Endkunden stärker einschränken, als wenn eine gesamte Dienstekategorie gleich behandelt würde. Die Deutsche Telekom hatte zuletzt angekündigt , wegen der EU-Verordnung den Musikstreamingdienst Spotify bei Erreichen das Datenvolumens zu drosseln.
Entscheidung von Fall zu Fall
Die nationalen Regulierer sollen dabei von Fall zu Fall entscheiden, ob solche Angebote möglich sind. Neben der Wahlfreiheit der Nutzer soll dabei auch Marktposition der Provider sowie der Inhalteanbeiter wie Google, Netflix oder Facebook eine Rolle spielen. Die Regulierer könnten Firmen mit einer schwachen Position am Markt eher solche Angebote erlauben als einem Marktführer oder einem Quasi-Monopolisten. Meinungsfreiheit und Pluralität der Medien seien ebenfalls zu berücksichtigen.
Die EU-Regulierer haben in den Entwurf zudem versucht, die Vorschriften für das erlaubte Trafficmanagement näher zu definieren. So erlaubt die Verordnung ein Trafficmanagement unter Berücksichtigung bestimmter "Verkehrskategorien" , ohne diese im einzelnen zu benennen. Laut Gerek sollen die Provider solche Kategorien anhand der Qualitätsanforderungen bestimmen. So könnten Echtzeitanwendungen mit geringen Übertragungszeiten eine eigene Kategorie bilden.
Keine Deep-Packet-Inspection erlaubt
Kritiker hatten befürchtet , dass sich die Verkehrskategorien nicht ausreichend von den Spezialdiensten abgrenzen ließen. Laut Gerek können solche Verkehrskategorien beispielsweise durch Übertragungsprotokolle wie SMTP, HTTP oder SIP bestimmt sein, aber auch durch generische Anwendungstypen wie Videos, File Sharing oder Instant Messaging.
Eine bevorzugte Datendurchleitung anhand dieser Kategorien ist den Leitlinien zufolge unter bestimmten Bedingungen erlaubt. So müssten die Kategorien mit bestimmten Qualitätsanforderungen verknüpft sein und dürfen Anwendungen derselben Kategorie nicht unterschiedlich behandelt werden. Verschlüsselter Traffic dürfe aufgrund der Verschlüsselung nicht schlechter als andere Daten behandelt werden. Die Regulierungsbehörden sollen sicherstellen, dass der spezifische Inhalt der Daten für das Trafficmanagement keine Rolle spielt. Das heißt, die Provider dürfen lediglich die Header-Daten auswerten, jedoch keine Deep-Packet-Inspection durchführen.
Stellungnahmen bis 18. Juli möglich
Bis zum 18. Juli 2016 können alle Interessengruppen und Bürger eine Stellungnahme zu dem Entwurf über die E-Mailadresse NN-Consultation@berec.europa.eu abgeben. Die Beiträge sollen möglichst bald auf Englisch eingereicht werden. Bis zum 30. August dieses Jahres will Gerek die Stellungnahmen auswerten und eine endgültige Fassung der Leitlinien vorlegen.
Netzaktivisten zeigten sich insgesamt zufrieden mit den Leitlinien. Die Organisation European Digital Rights (Edri) bescheinigte dem EU-Gremium(öffnet im neuen Fenster) , einen "exzellenten Job" gemacht zu haben. Die Leitlinien seien ein "entscheidender Schritt auf dem Weg zu einer wirklichen Netzneutralität" . Mit Blick auf die strittigen Themen Spezialdienste, Trafficmanagement und Zero Rating seien jedoch Verbesserungen nötig. So forderte Edri in einem offenen Brief an Gerek(öffnet im neuen Fenster) unter anderem ein Verbot von Zero Rating.
Die frühere Befürchtung, wonach verschlüsselte Daten durch das Trafficmanagement diskrimiert werden könnten, scheint jedoch durch die Leitlinien ausgeräumt. Sollten die Leitlinien aber umgesetzt werden, droht ein Flickenteppich an nationalen Regelungen beispielsweise beim Zero Rating. So könnte jedes Land selbst entscheiden, welche Praktiken noch mit der Netzneutralität zu vereinbaren sind.



