Linux-Kernel CoC: Endlich normale Leute

Jahrzehntelang hat der Linux-Erfinder und -Chefentwickler Linus Torvalds andere Entwickler teils aufs Übelste beschimpft und beleidigt und damit einige Entwickler aus der Community vertrieben. Trotzdem wurde er für dieses Verhalten immer wieder verteidigt. Vor wenigen Monaten hatte Torvalds jedoch endlich ein Einsehen , bat öffentlich um Entschuldigung und gelobte Besserung. Außerdem erhielt die Kernel-Community verpflichtende Verhaltensregeln. Schnell entbrannte darüber eine hitzige Debatte, ein Exodus von Kernel-Entwicklern wurde vorhergesagt und selbst Journalisten witterten eine "politische Kontrolle" . Doch inzwischen zeigt sich, dass etwas Benehmen im Umgang miteinander selbst der Linux-Community nicht schadet.
Um die Diskussionen besser einordnen zu können, lohnt sich ein Rückblick auf die Entwicklungen der Kernel-Community und auf Torvalds in den vergangenen Jahren einerseits, andererseits sollte man aber auch einen Blick auf den sogenannten Contributor Covenant(öffnet im neuen Fenster) Code of Conduct werfen, also die Selbstverpflichtung der Beitragenden, sich an Verhaltensregeln zu halten. Er dient - wie in vielen weiteren Open-Source-Projekten auch - als Grundlage für die nun aktuellen gültigen Regeln in der Kernel-Community.
Diskussionen seit 2013
Bereits im Jahr 2013 regte die für USB-Treiber zuständige Entwicklerin Sarah Sharp eine "professionellere" Diskussionskultur an. Die Beleidigungen und die vermeintlichen Späße über physische Gewalt gingen ihr schlicht zu weit. Die dadurch entstandene Initiative fand schnell einige Unterstützer in den Reihen der Linux-Kernel-Hacker und sorgte für einige langanhaltende Diskussionen.
Wie zu erwarten, sah der durch Sharp kritisierte Torvalds damals noch keinerlei Probleme mit seinem Verhalten und verteidigte seinen oft harschen Tonfall als notwendig. Er glaube, seine Meinungen würden sonst nicht ernst genug genommen. Außerdem habe er, so schrieb Torvalds damals, keine Lust auf diese "aufgesetzte Höflichkeit, die Lügen, die Büropolitik, die Hinterhältigkeit, die passive Aggressivität" - was er alles offenbar mit normaler Büroarbeit verbindet.
Torvalds will sich nicht verbiegen
Dass Torvalds Büroarbeit und den Hierarchien und Umgangsformen vor allem großer IT-Unternehmen wenig Sympathie entgegenbringt, ist hinlänglich bekannt. Er selbst beschreibt diese Attitüde(öffnet im neuen Fenster) in der Diskussion mit Sharp so: Er arbeite zuhause in seinem Bademantel und werde nicht plötzlich anfangen, Krawatten zu tragen.
Diese Einstellung zeigt sich auch an den sehr wenigen öffentlichen Auftritten, die Torvalds für seinen Arbeitgeber, die Linux Foundation, absolviert. Zwar führt er tagein, tagaus die eigentlichen Geschäfte der Kernel-Entwicklung. Aufgaben, die üblicherweise der Person mit Führungsrolle zufallen, übernimmt allerdings seit Jahren die inoffizielle Nummer zwei in der Kernel-Entwicklung, Greg Kroah-Hartman.
Führung im Konflikt mit der Öffentlichkeit
Im Gegensatz zu Torvalds hält Kroah-Hartman regelmäßig Vorträge auf Konferenzen, ist Ansprech- und Kooperationspartner für eine Vielzahl von Unternehmen und Konsortien und steht außerdem der Community immer nett und freundlich Rede und Antwort. So mischt sich Kroah-Hartman, oft auch mit seiner Familie, unter Konferenzteilnehmer und ist offen für Fragen, Autogramme oder spontanen Smalltalk.
Zuletzt ist dies sogar in dem Format der sogenannten Office Hours formalisiert worden. Konferenzteilnehmer können sich hierbei zu einer festgelegten Zeit mit dem Entwickler treffen und ihm Fragen stellen. Mit Torvalds scheint solch ein Format überhaupt nicht umsetzbar.
Trotzdem war und ist Torvalds der hauptverantwortliche Entwickler des Linux-Kernels und hat damit eine gewisse Führungsrolle, die zum Beispiel zu einer gesteigerten öffentlichen Beobachtung durch Journalisten führt. Außerdem dient Torvalds' Verhalten - wenn auch vielleicht nicht direkt beabsichtigt - als Vorbild für andere Entwickler, die ihr eigenes Verhalten mit dem Verweis auf Torvalds rechtfertigen.
So kritisierte etwa der Systemd-Gründer Lennart Poettering die "furchtbare Linux-Community" und ihre teils "hasserfüllten" Diskussionen. Eine besondere Rolle komme hier führenden Kernel-Entwicklern zu, allen voran Linus Torvalds. Er sei für viele ein Vorbild, allerdings ein sehr schlechtes, schrieb Poettering.
Code of Conflict als Anfang
Im Jahr 2015 musste aber auch Torvalds letztlich einsehen, dass seine Art, mit Konflikten umzugehen, vermutlich nicht die beste Strategie für alle in der Kernel-Community ist. Nach Diskussionen mit Sharp und vielen anderen pflegte der Chefentwickler schließlich einen von Greg Kroah-Hartman verfassten Patch ein, der durch mehr als 60 teils sehr profilierte Entwickler unterstützt(öffnet im neuen Fenster) wurde.
In diesem Beitrag wird ein Conflict festgelegt, der bezeichnenderweise sehr technisch verfasst ist und den Ablauf bei persönlichen Auseinandersetzungen regeln sollte. Was damals zwar durchaus als Erfolg und Schritt in die richtige Richtung betrachtet wurde, reichte einigen der Beteiligten jedoch nicht aus. Denn echte Veränderungen im Umgang konnte durch den Conflict nicht erreicht werden.
Deshalb zog sich schließlich Sarah Sharp vollständig aus der Kernel-Entwicklung zurück. Ihr folgten einige weitere bekannte Entwickler wie etwa Matthew Garrett. Die Debatte wurde unterdessen weitergeführt, wenn auch weniger öffentlich und auf persönlicher Ebene, etwa bei Konferenzen.
Vor wenigen Monaten schließlich gab es doch noch die von Sharp schon vor Jahren angestrebten klaren Regeln mit klaren Definitionen für nicht akzeptiertes Verhalten. Doch auch die neu gewählten Grundlagen, die Umstände dieser Entscheidung und die konkrete Umsetzung entfachten letztlich wieder teils heftige Diskussionen innerhalb und außerhalb der Kernel-Community.
Überraschend neue Verhaltensregeln
Die Ankündigung, dass Linus Torvalds sich vorübergehend eine Auszeit nehmen, die Kernel-Entwicklung an Greg Kroah-Hartman übergeben und dazu noch den neuen Code of Conduct einpflegen würde, kam im September 2018 für die meisten wohl völlig unerwartet. Das führte schnell zu Diskussionen um die tatsächlichen Hintergründe dieses Schrittes.
Im Grunde war die Ankündigung aber wohl nur überfällig und ein Text im Magazin New Yorker(öffnet im neuen Fenster) , in dem der harsche Führungsstil von Torvalds thematisiert wird, eventuell ein letzter notwendiger Auslöser für den vorläufigen Schlusspunkt einer langandauernden Entwicklung.
Zuletzt wollte Torvalds gar dem Kernel-Summit fernbleiben, also die direkte Interaktion mit den wichtigsten Kernel-Maintainern vermeiden, was bei den Beteiligten und Freunden von Torvalds nicht auf besonderen Anklang gestoßen sein dürfte. Möglicherweise haben auch persönliche Entwicklungen zu Torvalds Wandel in den letzten Jahren beigetragen. So hat er drei Töchter im Teenager- und jungen Erwachsenenalter, die im als sehr links-liberal geltenden Portland aufgewachsen sind und wohl auch Forderungen stellen und Erwartungen an ihren Vater haben dürften. Insbesondere dann, wenn sie selbst den Ausbildungs- und Arbeitsweg in der IT einschlagen.
Mögliche einzelne Beweggründe Torvalds aufzuzählen, ist hier wohl aber weniger zielführend, immerhin steht nun ein für die Community verbindliches Ergebnis fest, mit dem gearbeitet werden kann und muss. Doch auch darüber wird vor allem außerhalb der Kernel-Community teils heftig gestritten.
Politische Regeln?
Wie erwähnt dient der Code of Conduct des Contributor Covenant als Grundlage für die nun in der Kernel-Community gültigen Regeln. Dieser Text wird aber unter anderem mit Ad-Hominem-Angriffen gegen die Initiatorin Coraline Ada Ehmke kritisiert, die sich selbst als Aktivistin und den Code of Conduct als politischen Akt versteht. Exemplarisch dafür ist etwa der Kommentar eines Journalisten(öffnet im neuen Fenster) , der in der Einführung des Codes das Ziel der absoluten politischen Kontrolle in allen Lebensbereichen sieht und dies mit der Tätigkeit und den Zielen Ehmkes begründet.
Dass aber schon die FAQ des Contributor Covenant(öffnet im neuen Fenster) explizit darauf verweisen, dass der Text von der Initiatorin und Autorin getrennt betrachtet werden soll, scheint die Kritiker in diesen Debatten oft nicht zu interessieren. Aber selbst wenn dies außer Acht gelassen wird, bleibt die Frage, ob es sich bei den Regeln um politische Kontrolle oder um die Grundlagen für ein professionelles Miteinander handelt.
Letzteres wird von den Kritikern oft verneint. Inzwischen nutzen die Regeln aber nicht nur mehrere Tausend Community-Projekte, sondern auch große Unternehmen wie etwa Facebook, IBM, Intel, Google oder auch Microsoft für sich und ihre Projekte. Dass ausgerechnet diese Unternehmen eine große politische oder gar moralische Kontrolle damit umsetzten wollen, ist angesichts der teils zutiefst fragwürdigen Geschäftspraktiken dieser Unternehmen schwer vorstellbar.
Ehmke und viele weitere Unterstützer innerhalb und außerhalb der Kernel-Community verbinden mit dem Code of Conduct wohl trotzdem eine politische Botschaft, so wie auch der CCC und seine Sprecher sich als klar politisch bezeichnen und gar von einer(öffnet im neuen Fenster) "zeckigen Agenda" sprechen. Oder die von Richard Stallman gegründete Free Software Foundation, die das Ziel einer freien Gesellschaft mit ihren Mitteln erreichen will.
Für Greg Kroah-Hartman spielen derartige Überlegungen aber wohl überhaupt keine Rolle. In einer Diskussionsrunde mit einigen weiteren Kernel-Hackern sagte er laut dem Magazin LWN.net(öffnet im neuen Fenster) : "Wir verwenden die Regeln für das, was sie uns bieten, und nicht, um die politischen Ziele anderer zu fördern." Und damit scheint die Kernel-Community zumindest bisher Erfolg zu haben.
Fast alles wie bisher
In der durch LWN.net dokumentierten Diskussion zur Einführung des Code of Conduct, an der bezeichnenderweise wieder Kroah-Hartman anstelle des Chefentwicklers Linus Torvalds teilgenommen hat, wird klar, dass sich bis auf einige Anfangsschwierigkeiten die Kernel-Community selbst gut mit den nun gültigen Regeln arrangiert hat, diese akzeptiert und auch mehr oder weniger stark unterstützt.
Um diesen Status zu erreichen, war aber von Seiten der Community zugegebenermaßen doch mehr Arbeit nötig, als den Text schlicht in den Code einzupflegen und als gültig zu bezeichnen. So gab es etwa einige Diskussionen oder eher Wortklaubereien um den Inhalt der Regeln und deren Durchsetzung. So spricht das Original etwa davon, dass die Maintainer verantwortlich zum Durchsetzen der Regeln seien, was für Diskussionen in Bezug auf den Begriff Maintainer führte.
Kroah-Hartman verweist darauf, dass die Aufnahme wie bei allen anderen Linux-Bestandteilen auch ein iterativer Prozess sei, Details im Vergleich zum eigentlich Upstream geändert werden können und jede Community im Grunde auch irgendwie anderes funktioniert. Das führte zu einem weiteren offiziellen Dokument(öffnet im neuen Fenster) , in dem die Kernel-Community festlegt, wie die neuen Regeln interpretiert und umgesetzt werden sollen.
Dazu zählt etwa, dass zur Problem- und Konfliktlösung derzeit Freiwillige dem gewählten Technical Advisory Board(öffnet im neuen Fenster) (TAB) angehören. Zu den Mitgliedern des TAB gehörten früher bereits Sarah Sharp oder auch Matthew Garrett und derzeit sind neben Kroah-Hartman auch der Intel-Entwickler Dan Williams und die Red-Hat-Angestellte Laura Abbott Teil des Gremiums. Die beiden letztgenannten unterstützen den Vorstoß des Code of Conduct ebenfalls. Hinzu kommt, dass mit Mishi Choudhary eine ausgebildete Mediatorin für eventuelle Konflikte bereitsteht.
Bisher sieht es aber so aus, dass sich die Community nur verlässliche Grundlagen und Werkzeuge geschaffen hat, damit diese im Notfall verfügbar sind und nicht, damit sie direkt gegen missliebige Entwickler eingesetzt werden. So sieht das auch Abbott, die in der Diskussion sagt, dass eine Eskalation wohl nicht notwendig sei, sondern viele der Probleme zwischen den Beteiligten geklärt werden können. Also eigentlich wie bisher auch, nur auf leicht veränderter Basis.
Dass sich im Großen und Ganzen durch den Code of Conduct nicht viel geändert hat, zeigt sich etwa auch an dem ausgebliebenen Exodus von Kernel-Entwicklern, den manch ein Kritiker heraufbeschworen oder gar gefordert hat. Das Gegenteil ist der Fall. So will nun etwa Matthew Garrett auch wieder außerhalb seiner Beschäftigung bei Google zur Kernel-Entwicklung beitragen und die Linux-Community gewinnt so ein bekanntes aktives Mitglied mit viel Erfahrung zurück.
Ebenso will der langjährige Kernel-Entwickler und vor allem für die Intel-Grafiktreiber zuständige Entwickler Daniel Vetter künftig(öffnet im neuen Fenster) gemeinsam mit dem bisher zuständigen David Airlie die Grafiktreiber-Infrastruktur im Kernel pflegen. Dies geschieht mit dem expliziten Verweis auf die neuen Regeln und den Wandel von Linus Torvalds. Vetter hatte zuvor vermieden, diese Position zu übernehmen, wohl um einer direkten Interaktion mit Torvalds aus dem Weg zu gehen.
Auch Torvalds selbst hat nicht nur Besserung versprochen, sondern nach seiner Pause direkt auch ein paar Dinge praktisch umgesetzt. So nutzt er nun eine Art E-Mail-Filter für sich, der ihn davon abhalten soll, Beleidigungen oder ähnliche Ausfälle zu verschicken. Das heißt aber noch lange nicht, dass nun beliebiger oder gar schlechter Code aufgenommen wird.
Das zeigt sich etwa an den Diskussionen um die Kryptoroutinen für die VPN-Technik Wireguard. Torvalds selbst ist ein absoluter Unterstützer dieser Neuerung und möchte sie in den Hauptzweig des Kernels integrieren. Der Code of Conduct bedeutet nicht, dass dies jetzt plötzlich einfacher und schneller geht als zuvor. Die harten technischen Diskussion bleiben erhalten, nur eben auf einem etwas anderen Diskursniveau. Das ist gut für den Kernel und die Community.



