Kulturwandel im Silicon Valley: Ist Google doch böse?

Dieser Text ist eine Übersetzung. Das Original des Entwicklers Ben Collins-Sussman, der viele Jahre bei Google gearbeitet hat, ist hier zu finden.(öffnet im neuen Fenster) Der Text wurde Anfang 2024 veröffentlicht.
Disclaimer: Dieser Beitrag basiert ausschließlich auf meinen Erfahrungen aus meinen 18 Jahren bei Google. Ich kenne die Überlegungen der obersten Führungskräfte nicht, sondern kann nur meine persönlichen Eindrücke wiedergeben.
Ich habe in den letzten Monaten dreimal versucht, diesen Text zu schreiben; es ist schwierig.
Große Ziele anzugreifen, ist leicht und beliebt - vor allem, wenn diese Ziele mit einer solchen Hybris verbunden sind wie bei den Technologieunternehmen des Silicon Valley. Menschen lieben Geschichten über Niedergänge, mein Ziel ist aber nicht, schmutzige Wäsche zu waschen.
Google ist immer noch ein toller Arbeitgeber, weit besser als die meisten Unternehmen, und es leistet nach wie vor Erstaunliches. Ich möchte hier das Einzigartige, Schöne teilen, das ich dort erlebt habe - in der Hoffnung, dass es eines Tages wieder hervorkommt.
Zweifellos hat man es bei Google am Anfang in mancherlei Hinsicht übertrieben. Ich habe diese E-Mail(öffnet im neuen Fenster) (eine Mail mit ersten Eindrücken bei Google, die der Autor damals an seine Freunde schickte, Anm. d. Red.) 18 Jahre lang aufbewahrt - bis zu dem Tag, an dem ich das Unternehmen verließ. Sie ist eine Art Zeitkapsel und ich wusste, es würde spannend sein, sie später noch einmal zu lesen.
In der E-Mail ging es hauptsächlich um eher oberflächliche Dinge, wie kostenloses Gourmet-Essen. Das war aber nicht der Grund, warum Googler zur Arbeit kamen. Der lag tiefer, in der Unternehmenskultur.
Als Ian Hickson - ein weiterer langjähriger Mitarbeiter - Google im letzten Herbst verließ, schrieb er einen Blogbeitrag(öffnet im neuen Fenster) (dessen Übersetzung hier auch bald zu lesen sein wird, Anm. d. Red.) , in dem es um den Wandel bei den getroffenen Entscheidungen ging. Ich stimme ihm im Großen und Ganzen zu, werde hier aber nicht alles wiederholen. Ich möchte über eine andere Veränderung sprechen.
Auf der Suche nach Generalisten
Was ich am Anfang bei Google am so ungewöhnlich fand, war, dass die Mitarbeiter über alles gestellt wurden. Ich hatte schon in anderen Unternehmen gearbeitet, aber so etwas hatte ich noch nicht erlebt. Mindestens in den ersten zehn Jahren meiner Zeit dort war das so, vielleicht auch länger.
Was ich damit meine? Wenn sich in einem normalen Unternehmen die Prioritäten ändern, wird ein Projekt "verkleinert" (oder gestrichen), und das Geld wird dann verwendet, um Mitarbeiter für ein anderes, wichtigeres Projekt einzustellen. Üblicherweise werden die Mitarbeiter des ersten Projekts entlassen und ein Haufen neuer Mitarbeiter für das zweite Projekt eingestellt. Das ist leicht und auch nicht besonders überraschend.
Google verfolgte jedoch einen anderen Ansatz: Dort bemühte man sich intensiv, Generalisten zu finden, die in der Lage waren, sich in allen möglichen Rollen zu bewähren.
Der Bewerbungsprozess war zermürbend
Der Bewerbungsprozess war für Bewerber und Interviewer zermürbend und dauerte oft Monate. Aber Google war überzeugt, dass sich der Aufwand an Ende lohnte: Man war sich sicher, die besten, intelligentesten und flexibelsten Mitarbeiter eingestellt zu haben.
Wenn sich die Prioritäten änderten, feuerte Google seine Mitarbeiter nicht, sondern brachte sie behutsam in andere Projekte. Das unausgesprochene Prinzip lautete: "Produkte kommen und gehen, aber wir haben so hart gearbeitet, um unsere Mitarbeiter zu bekommen, also sollten wir sie um jeden Preis halten. Sie sind unsere wertvollste Ressource."
Es wurde enorme Energie darauf verwendet, alle Mitarbeiter mit viel Fingerspitzengefühl in neue Projekte einzugliedern. Sie waren Generalisten und man war sich sicher, dass sie sich gut entwickeln würden und dass Google ihr Talent auf neue Weise weiter nutzen würde.
Als ich im Laufe der Jahre in die Führungsebene aufstieg, wurde ich immer stärker in diesen Prozess eingebunden. In meinen ersten Tagen als Individual Contributor erlebte ich Umstrukturierungen mit und wurde in neue Projekte eingearbeitet.
Als Führungskraft war ich während der Umstrukturierungen an der Suche nach neuen Aufgaben für die Teammitglieder beteiligt. Ich schrieb ein internes Handbuch für andere Führungskräfte, in dem beschrieben wurde, wie man diese Umstrukturierungen am besten durchführt.
Eine meiner schönsten Erinnerungen ist, dass sich einer der Entwickler, für den ich eine neue Stelle gefunden hatte, bei mir bedankte: Er sei viel zufriedener mit dem neuen, "wichtigeren" Projekt!
Der Wandel vollzog sich allmählich
Aber das änderte sich. In meinem ersten Monat bei Google sagte mir ein Kollege: "Der Tag, an dem die Einnahmen von Google nicht mehr unbegrenzt steigen, ist auch der Tag, an dem sich all das ändern wird." Der Wandel vollzog sich ganz allmählich, beschleunigte sich aber während der Pandemie.
Die Umsätze gingen zurück und nach der Pandemie sahen wir Wellen von Entlassungen. Wir wussten alle, dass sich etwas ändern würde, wir hatten aber nicht erwartet, dass es so schnell gehen würde.
Die Gründer sind weg, ein Großteil der Führungsriege bestand plötzlich aus ehemaligen Wall-Street-Managern. In Kombination mit dem Abflachen des Umsatzes in Richtung einer stabilen horizontalen Asymptote geschah das Offensichtliche und Erwartete: Das Unternehmen bewegte sich von einer "Kultur des unendlichen Überflusses" zu einer (normalen) "Kultur der begrenzten Ressourcen".
Ein vorhersehbarer Rückschritt zu einem normalen Unternehmen
Es ist ein vorhersehbarer Rückschritt hin zu einem normalen Unternehmen. (Wobei ich betonen möchte, dass Google meiner Meinung nach immer noch weit davon entfernt ist, ein normales Unternehmen zu sein. Es hat noch einen weiten Weg vor sich.)
Was heißt das nun, "Kultur der begrenzten Ressourcen"? Es bedeutet, dass die Führungskräfte beginnen, über finanzielle Effizienz nachzudenken, wie in jedem anderen Unternehmen auch.
Erst kürzten sie die offensichtlichen Vergünstigungen: weniger schickes Essen, Begrenzung des Reisebudgets, keine Werbegeschenke mehr, kleinere und weniger interne Partys und Veranstaltungen, keine chemische Reinigung oder Kinderbetreuung mehr vor Ort.
Aber wie gesagt: Das waren ohnehin nicht die Gründe, warum Googler gern zur Arbeit kamen. Also war das keine große Sache.
Aus dem Beispiel des frühen Google lernen
Dann werden die Kosten weiter gesenkt, indem man die komplizierten Einstellungs- und Beförderungsprozesse auf "traditionelle" Prozesse umstellt. Die Einstellung wird von einem mühsamen globalen Prozess (mit Kontrollen und Gegenkontrollen) zu einem lokalisierten Prozess innerhalb von Abteilungen, die ihre Kosten genau kontrollieren können.
Gleichzeitig ändern sich die internen Beförderungsprozesse von "Ich konkurriere mit mir selbst" zu "Ich konkurriere mit den Kollegen um eine begrenzte Zahl an Jobs" . Früher waren Titel an Personen geknüpft, heute zunehmend an Rollen - und die Zahl der Rollen (für einen bestimmten Titel) kann begrenzt werden, um Kosten zu sparen.
Stehen nun große Umstrukturierungen an, weil sich die Prioritäten ändern, zum Beispiel wegen KI, werden nicht mehr mit viel Aufwand neue Mitarbeiter eingestellt. Stattdessen gibt es Wellen unpersönlicher Entlassungen, gefolgt von (eher wenigen) Neueinstellungen in den neuen wichtigen Projekten. Mit anderen Worten: Google macht jetzt das, was ein normales Unternehmen eben tut.
Ist Google böse? Natürlich nicht. Wie ich schon mal geschrieben habe(öffnet im neuen Fenster) : Google ist keine Person. Seine Führungskräfte versuchen, verantwortlich zu handeln und effizient zu sein, unter einem Druck, wie ihn viele Unternehmen haben, wenn die Ressourcen begrenzt sind.
Wenn ich nun an meine ersten zehn Jahre bei Google zurückdenke, erscheint es mir noch unglaublicher, wie die Mitarbeiter damals über alles andere gestellt wurden. Vielleicht ist das ein Privileg und nur in einer Kultur des unendlichen Überflusses möglich.
Oder es ist nur in einer Kultur der begrenzten Ressourcen möglich, wenn das Unternehmen klein ist. Ich frage mich, ob die schiere Größe von Google (mehr als 170.000 Mitarbeiter) verträgliche Reorganisationen unmöglich macht.
Schnell scheitern muss man sich leisten können
Die Schlussfolgerung ist: Wir sollten alle aus dem Beispiel des frühen Google lernen. Wenn sich Mitarbeiter wertgeschätzt fühlen (was selten der Fall ist!), schafft das psychologische Sicherheit, eine hohe Arbeitsmoral, Produktivität und Kreativität.
Die Mitarbeiter der ersten Stunde haben sich oft gegenseitig dazu ermutigt, "schnell zu scheitern" , um Innovation zu erreichen. Nur ist das in einem Umfeld, in dem Scheitern Entlassung bedeutet, nicht mehr so einfach.
Allen, die ein Unternehmen aufbauen wollen, sei gesagt: Stellt euch der Herausforderung, die Mitarbeiter über alles zu stellen, seht euch dann den ROI an - und staunt!
Übersetzt wurde der Text von Jennifer Fraczek, mit Unterstützung von DeepL.



