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Sebastian Krapp: Ja. Ähnliche Effekte wie bei aktuellen Social-Media-Plattformen sind denkbar und wurden auch bereits beschrieben. Eine KI könnte, entsprechend programmiert, noch individueller versuchen, die jeweilige Person zum Dranbleiben zu bewegen.

Golem: Und was bedeutet das für Menschen, die ohnehin zu Rückzug neigen?

Sebastian Krapp: Das Problem des sozialen Rückzugs wird für die Betroffenen dadurch scheinbar weniger spürbar, weil es durch die virtuelle Welt ersetzt wird – beschrieben zum Beispiel in besonders ausgeprägter Form beim Phänomen der Hikikomori in Japan(öffnet im neuen Fenster) . Das könnte ein Vermeidungsverhalten als Teil der Abhängigkeit erleichtern.

Golem: Laut der Bundespsychotherapeutenkammer warten Patienten im Schnitt 142 Tage vom Erstgespräch bis zum Therapiebeginn(öffnet im neuen Fenster) . Erleben wir deshalb gerade einen gefährlichen Trend, bei dem Menschen in ihrer Not vermehrt auf ChatGPT und ähnliche KI-Tools zurückgreifen, anstatt professionelle Hilfe zu suchen?

Sebastian Krapp: Die langen Wartezeiten auf psychiatrische und psychotherapeutische Behandlungsplätze sind aktuell in der Tat ein ernstes Problem, das sich seit der Pandemie verschärft hat. Dass Menschen in dieser Wartezeit auf andere Möglichkeiten zurückgreifen, ist normal. Das allein wäre auch kein Problem, solange es sich um seriöse Informationen und Anweisungen handelt und dies nicht dazu führt, dass keine professionelle Hilfe mehr in Anspruch genommen wird.

Golem: Könnten KI-Tools also zumindest überbrückend eine sinnvolle Rolle spielen?

Sebastian Krapp: Ja, solange das gewährleistet ist, könnten eigens für die Wartezeit entwickelte IT- und KI-Tools bereits hilfreiche Informationen bieten und Möglichkeiten der Selbsthilfe trainieren, die einer anschließenden Therapie von Anfang an zugutekämen. An solchen Programmen wird von vielen Organisationen und Unternehmen bereits geforscht und gearbeitet.

Golem: Wo sehen Sie dabei die größten Risiken?

Sebastian Krapp: Für mich ist dieser an sich positive Punkt aber auch mit einer großen Sorge verbunden: Wird in Zukunft aus wirtschaftlichen Gründen der Zugang zu ärztlicher und psychotherapeutischer Hilfe eingeschränkt, etwa so, dass zuerst eine KI konsultiert werden muss? Wird der teure menschliche Arzt im direkten Kontakt am Ende nur noch Schwerkranken oder zusätzlich privat versicherten Menschen offenstehen? Vor dem Hintergrund der aktuellen Kostendiskussion im Gesundheitssystem halte ich das leider für alles andere als unwahrscheinlich.

Wo KI tatsächlich helfen könnte

Golem: Sehen Sie Anwendungsbereiche, in denen KI-Tools wie ChatGPT eine sinnvolle, unterstützende Rolle im therapeutischen Kontext einnehmen könnten?

Sebastian Krapp: Ja, absolut! Der große Bereich der Psychoedukation, also das Vermitteln von Wissen und theoretischen Fertigkeiten, wird durch KI in Zukunft vermutlich individueller, schneller verfügbar und kostengünstiger werden, als es derzeit möglich ist. Das Datenschutzproblem muss dafür natürlich gelöst werden.

Golem: Halten Sie ChatGPT selbst dafür geeignet oder braucht es spezialisierte Systeme?

Sebastian Krapp: Ich halte spezialisierte KI-Systeme für deutlich besser geeignet als allgemeine wie ChatGPT. Solche Systeme könnten in Zukunft auch in der Diagnostik unterstützen, etwa durch die Auswertung schriftlicher Eingaben oder Stimmprofile. Als verantwortlicher Arzt habe ich jedoch stets das Bedürfnis, Einschätzungen nachvollziehen und kritisch prüfen zu können, bevor sie Eingang in die Arzt-Patienten-Beziehung finden.

Auch Therapeuten nutzen KI bereits

Golem: Nutzen Therapeutinnen und Therapeuten KI-Tools bereits heute in ihrer Arbeit?

Sebastian Krapp: Ja, viele Therapeutinnen und Ärzte nutzen bereits jetzt KI-Tools, um ihre Überlegungen nochmals kritisch zu hinterfragen, seltene Diagnosen nicht zu übersehen oder Behandlungspläne anzupassen. Dabei spielen zwei Dinge eine wichtige Rolle: Erstens gibt KI umso bessere Antworten, je mehr man selbst von dem Thema versteht, was wiederum die kritische Prüfung erleichtert. Und zweitens bleibt die Verantwortung stets bei der behandelnden Person.


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