Wie die Raumzeit doch zum Gummituch wird
Schreiten wir nun zur Rettung des Gummituch-Modells. Als erstes verlegen wir das Gedankenexperiment aus dem gemütlichen Wohnzimmer weit hinaus ins kalte Weltall, fernab von Sternen und Planeten, an einen Ort völliger Schwerelosigkeit. So können wir nicht mehr in die Falle tappen, Gravitation durch Gravitation zu erklären.
Wir schweben hier draußen neben einem aufgespannten Gummituch und stellen fest, dass die große schwere Kugel mangels Erdanziehung keinerlei Anstalten macht, eine Delle hineinzudrücken. Wir müssen die Kugel also mit Kraft in das Tuch drücken, um es zu dehnen.
Die kleine Murmel ersetzen wir durch ein Spielzeugauto, das auf dem Gummituch fahren kann. Ein wenig doppelseitiges Klebeband um die Reifen verhindert, dass das Auto davonschwebt. Wenn wir ihm nun einen Schubs geben und es am Gummituch entlang rollt, sehen wir tatsächlich den Effekt der inneren Krümmung: Solange sich das Auto weit von der Kugel entfernt und damit im flachen Teil des Gummituchs befindet, bewegt es sich auf einer geraden Linie. Sobald es jedoch nah an der Kugel vorbeifährt, wird es aufgrund der Krümmung (!) der Fläche zur Kugel hin abgelenkt (siehe Bild 3).
Dass hier tatsächlich die Krümmung am Werk ist, sieht man wie folgt: Wenn ein Auto geradeaus fährt, drehen sich seine linken und seine rechten Räder gleich schnell. In einer Kurve hingegen drehen sich die äußeren Räder schneller als die inneren, da sie einen längeren Weg zurücklegen müssen.
Wenn unser Auto nun an der Kugel vorbeifährt, ohne seine Fahrtrichtung zu ändern, dann drehen sich die inneren Räder häufiger: Sie müssen ja durch die tiefere Delle fahren und daher einen längeren Weg zurücklegen (siehe Bild 4).
Also ist eine Bahn ohne Änderung der Fahrtrichtung zwar im umgebenden dreidimensionalen Raum eine Gerade (abgesehen von der unvermeidlichen Abweichung beim Durchfahren der Delle) - in der Welt des Gummituchs aber eine Kurve. Um im Gummituch geradeaus - also auf einer Geodäte - zu fahren, muss sich das Auto während der Fahrt so drehen, dass die von der Krümmung verursachten Unterschiede zwischen den Laufwegen der linken und rechten Räder durch die Drehung wieder kompensiert werden.
Kleine Änderung - große Wirkung
Manch einer mag den Tausch Murmel gegen Spielzeugauto als Haarspalterei abtun, zumal sich bisher die gekrümmten Bahnen in beiden Fällen ähnlich sehen. Doch dem ist mitnichten so.
Besonders deutlich wird der Unterschied beider Modelle und damit auch der Unterschied zwischen innerer und äußerer Krümmung, wenn wir noch eine weitere Modifikation vornehmen: Wir stülpen das Gummituch um. Aus der Delle wird also ein Hügel (siehe Bild 5).
Wenn wir dieses Experiment wieder auf der Erde machen, sehen wir eine große Auswirkung auf die Bahn der Murmel: Sie wird nun von der großen Kugel abgestoßen. An der Bahn des Autos ändert sich jedoch - nichts. Denn das Auto folgt der inneren Krümmung des Tuchs und die bleibt unverändert, egal in welche Richtung die Delle zeigt (wer nicht überzeugt ist: Die Argumentation ist die gleiche wie in Bild 4).
Flachland-Newton erklärt die Schwerkraft
Wenn die Bahn des Autos in der zweidimensionalen Welt des Gummituchs eine gerade Linie ist und nur von außerhalb als Kurve erscheint, woran merken dann eigentlich die Flachländer, dass es überhaupt eine Gravitation gibt?
Sie merken es, wenn sie die Bahnen mehrerer Autos vergleichen: Zwei Autos, die in einigem Abstand parallel zueinander starten, fahren nach einiger Zeit in unterschiedliche Richtungen. Ein flachländischer Isaac Newton würde sagen: Auf die Autos wurde eine Kraft ausgeübt und hat sie abgelenkt. In Wirklichkeit aber gibt es gar keine Kraft - beide Autos sind einfach in ihrem jeweiligen Bereich des gekrümmten Raumes geradeaus gefahren.
Hier wird eine Kernaussage der allgemeinen Relativitätstheorie deutlich: Die Schwerkraft ist keine Kraft - sondern ein rein geometrischer Effekt, der die Bahnen aller Körper genau wie die von Lichtstrahlen beeinflusst.
Letztlich hilft nur Mathematik
Natürlich ist auch das Auto-Modell nicht perfekt: Insbesondere krümmt sich in Einsteins allgemeiner Relativitätstheorie die Raumzeit, während sich im Modell nur der Raum - also das Tuch - krümmt.
Damit hängt auch die Einschränkung zusammen, dass sich das Auto nicht in Ellipsen um die Kugel bewegen kann, so wie es die Planeten um die Sonne tun. Die Bahn des Autos entspricht eher der eines Kometen, der ins Sonnensystem eindringt, abgelenkt wird, und es wieder verlässt. Um schöne Ellipsenbahnen zu bekommen, muss man nicht nur den Raum sondern Raum und Zeit gemeinsam verbiegen - und dafür braucht es dann doch die Mathematik.
Helmut Linde leitete verschiedene Data-Science-Teams in deutschen Konzernen und ist nun bei der Covestro AG für die Digitalisierung von Forschung und Entwicklung verantwortlich. Als Mathematiker und Physiker ist er fasziniert von naturwissenschaftlichen Themen sowie der Anwendung und der Zukunft der künstlichen Intelligenz.
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Krümmung ist nicht gleich Krümmung |
... hat zum Problem der wissenschaftlichen Vereinfachung ein sehr schönes Video gemacht...
Lieber Helmut, danke für Deine Mühe, diesen Artikel zu schreiben. Er liest sich schön und...
Diese Frage wird nicht beantwortet. Die Physik beschränkt sich darauf, gewisse...
Das Video stellt den Sachverhalt sehr gut dar. Vielen Dank für den Link.