IT-Freelancer als CTO: "Man sollte versuchen, sich selbst überflüssig zu machen"

Dieser Beitrag ist die 9. Ausgabe von Chefs von Devs, dem Golem.de-Newsletter für CTO, Technical Directors und IT-Profis. Alle zwei Wochen erscheint eine neue Ausgabe. Chefs von Devs kann hier kostenlos abonniert werden .
Bevor ich IT-Wirtschaftsredakteur in Festanstellung bei Golem.de wurde, war ich Freelancer und habe zum Beispiel Reportagen über Spieleentwickler geschrieben, die mit ihrer Projektfinanzierung gescheitert sind(öffnet im neuen Fenster) .
Mein Gesprächspartner in dieser Ausgabe hat den Absprung aus dem freien Schaffen in einen sicheren Arbeitsvertrag noch nicht gemacht - und leitet dennoch Teams. Wie man das frei beschäftigt und zeitlich begrenzt schafft, lest ihr weiter unten. Dass sein Posten von Anfang an zeitlich beschränkt ist, liegt wahrscheinlich auch am Insolvenzverfahren seines derzeitigen Arbeitgebers 4Scotty(öffnet im neuen Fenster) . Das in Berlin ansässige Jobportal für IT-Profis arbeitet derzeit an einer Umstrukturierung.
Dabei könnten viele aus der IT-Branche ein Jobportal wohl gut gebrauchen. Das Jahr 2022 war von einer Reihe an Massenentlassungen geprägt(öffnet im neuen Fenster) , wie sie die Branche lange nicht erlebt hat. Die Angst vor einer Rezession treibt sogar von ewigem Wachstum getriebene Konzerne wie Oracle, Microsoft und Meta zum Einstellungsstopp und Stellenabbau.
Aber keine Sorge: Dass die Techbranche in Deutschland von Insolvenzen verhältnismäßig selten betroffen ist, zeigt die Grafik, die Statista wie immer zu diesem Newsletter beigesteuert hat.
Wie man auch mit eingeschränkter Zeit einen positiven Eindruck bei einem Unternehmen hinterlassen kann, ob ein Chef auf Zeit trotzdem mit voller Hingabe dabei ist und wie er seine Work-Life-Balance dabei im Griff behält, darüber habe ich mit Jörg Ossenkopp für Chefs von Devs gesprochen. Viel Spaß beim Lesen!
Wenn eine Firma ein Schiff ist und der Chef der Kapitän, dann sollte er bis zum bitteren Ende an Bord sein. Jörg Ossenkopp(öffnet im neuen Fenster) hingegen ist CTO auf Zeit. Wenn der Freelancer einen Führungsposten antritt, ist sein Abschied meist schon absehbar. Momentan ist er Interim CTO bei 4Scotty. Wie die Freiberuflichkeit mit den Erwartungen an eine Teamleitung zusammenpasst, erzählt er im Gespräch mit Chefs von Devs.
Interview mit Jörg Ossenkopp
Golem.de: Warum brauchen Unternehmen überhaupt einen Interim CTO?
Jörg Ossenkopp: Meist übernimmt ein Interim CTO in kritischen Phasen, wenn Unternehmen nicht die Zeit haben, einen passenden CTO zu finden. Fest angestellt ist man als Interim CTO nur selten. Wenn es ein Freelancer macht, geht das Onboarding superschnell: Du bist sofort da. Es ist aber auch klar, dass du schnell weg sein könntest.
Golem.de: Wie wird man als Freelancer zum Chef?
Jörg Ossenkopp: Man sollte relativ viel Berufserfahrung haben und ein großes Netzwerk. Normalerweise sind Freelancer in der Technik Programmierer. Aber einer Person mit genug Erfahrung trauen die Leute auch zu, aus einer Freelance-Position eine ganze Abteilung zu führen.
Golem.de: Man muss also schon risikobereit sein.
Jörg Ossenkopp: Du musst halt damit leben können, dass dein Berufsleben nicht so von Sicherheit gekennzeichnet ist wie in der Festanstellung. Du musst mit einer gewissen Unsicherheit und Fragilität leben können.
Golem.de: Wenn ich mir dein Linkedin-Profil anschaue, sehe ich: Du warst Freelancer, dann zwei Jahre in einer Lead-Position, wieder Freelancer und jetzt Interim CTO. Hat dir diese Sicherheit, zehn Jahre bei einem Unternehmen Karriere zu machen, nie gefehlt?
Jörg Ossenkopp: Es war mir auch ab und zu ein bisschen unangenehm, so wenig Sicherheit zu haben. Aber es ist auch schön, so viel Freiheit zu haben. Du lernst immer unglaublich viel, wenn du in eine neue Firma reinkommst, und das hast du einfach nicht, wenn du von langjähriger Festanstellung zu langjähriger Festanstellung gehst. Die mangelnde Sicherheit wird durch die Vielfalt mehr als aufgewogen. Ich habe aber auch kein Problem, mich zu committen, auch wenn manche Leute das ein bisschen anzweifeln.
Golem.de: Nehmen bestehende Teams einen Freelancer ohne Weiteres als Vorgesetzten an?
Jörg Ossenkopp: Manche haben die Vorstellung, dass ein Freelancer nicht in einer Führungsposition arbeiten kann. Die Erfahrung, die ich mitbringe, muss man wertschätzen, und man muss auch offen für die Erfahrung sein, die ich anbiete. Dafür muss das Gegenüber mir auch den Platz zusprechen. Und dann muss man auch zeigen, dass man es kann. Aber wenn einem von vornherein kein Platz freigemacht wird, dann ist es schwer.
Golem.de: Das ist jetzt ein bisschen überspitzt, aber macht es das leichter, dass du als Freelancer einen einfacheren Exit hast, wenn es eben nicht passt?
Jörg Ossenkopp: Es ist immer eine Frage: Wie viel Herzblut investiert man überhaupt in einen Beruf? Das macht dich natürlich auch verletzlich. Und als Freelancer bist du da von vornherein nicht so in der Firmenpolitik drin, sowohl den internen Streitigkeiten als auch den Freundeskreisen.
Golem.de: Wie weit stellst du dich auf die Kultur des Unternehmens ein und wie weit muss sich ein Unternehmen auch auf dich als Freelancer einstellen?
Jörg Ossenkopp: Als Freelancer, egal ob Team-Lead, CTO oder Programmierer, bist du immer Dienstleister. Da wird von dir die Anpassungsleistung erwartet. Ich würde aber sagen: Gute Firmen stellen sich wirklich auf das Team und die Leute ein - und sind dann eben auch offener gegenüber Freelancern und deren persönlichen Bedürfnissen und Eigenarten.
Golem.de: Was sind die großen Missverständnisse, die Unternehmen bezüglich Freelancern haben?
Jörg Ossenkopp: Es ist ein Missverständnis zu denken, dass Freelancer nicht so wie Festangestellte Dinge aufbauen können. Ich habe gelesen, dass eine durchschnittliche Festanstellung im IT-Bereich momentan zwei Jahre dauert, was eigentlich unglaublich wenig ist. Als Firma musst du dich sowieso so aufstellen, dass jeder einzelne Mitarbeiter ersetzbar ist. Als Freelancer kannst du also ganz ähnlich wie ein fester Mitarbeiter auch Führungsaufgaben übernehmen und Technologieentscheidungen treffen.
Golem.de: Wie managst du die Menge an Arbeit und Projekten, die du dir aufbürdest? Und wie achtest du darauf, dass es nicht zu viel wird?
Jörg Ossenkopp: Wenn du dir zu viel aufbürdest, dann hat das zum einen kognitive Konsequenzen, dass du dich nicht gut genug auf eine Sache konzentrieren kannst. Und es ist auch einfach eine Frage der Belastung, dass du keine Energie hast oder dass du leichter krank wirst. Dafür muss man ein Gefühl entwickeln. Es gibt dann Crunch Times und es gibt dann wieder Zeiten, wo du nur ein Projekt hast oder gar kein Projekt. Die musst du nutzen, um Energie aufzuladen.
Golem.de: Du hast einen Doktor in Philosophie. Wie passt das mit IT zusammen? Ich glaube, diese Kombination habe ich bei dir zum ersten Mal gesehen.
Jörg Ossenkopp: Ich bin aus der Philosophie in die Informatik gelangt, habe den ersten Doktorarbeits-Versuch abgebrochen und bin dann in die Wirtschaft gegangen. Ich fand das irgendwie erfrischend anders. Eine ergebnisorientierte Diskussionskultur. Zumindest habe ich es damals so empfunden, dass es in Diskussionen weniger Selbstdarstellung gab. Das würde ich jetzt vielleicht anders sehen. [lacht]
Golem.de: Beeinflusst dieser Philosophie-Background deine Arbeit als Informatiker?
Jörg Ossenkopp: Das würde ich schon so sehen. Sachen wie Fairness, Diversität und Inklusion sind mir total wichtig. Auch Gendertheorie ist mir wichtig. Es gibt halt zu wenig Programmiererinnen in der Informatik und es gibt in manchen Firmen so eine Bro-Culture und ich versuche immer, mit Programmiererinnen zusammenzuarbeiten.
Golem.de: Wie stark kannst du diese Überzeugungen in Unternehmen reinbringen, in denen du nur befristete Zeit verbringst?
Jörg Ossenkopp: Ich bin da natürlich auch Dienstleister und grundsätzlich nehme ich die bestehende Teamführung auf und kitzele da vielleicht noch etwas mehr heraus. Es gibt in der Teamführungstheorie so etwas wie Psychological Safety, psychologische Sicherheit, die wichtig ist, damit ein Team gut funktioniert. Und das hat natürlich auch einen politischen Aspekt. Ich versuche, da politisch unpolitisch zu sein - oder umgekehrt, unpolitisch politisch - indem ich mich auf Wissenschaft berufe, auf so etwas wie Teampsychologie. Und das hat natürlich dann einen politischen Aspekt.
Golem.de: Wie politisch sollten oder können Personen in technischen Führungspositionen sein?
Jörg Ossenkopp: Das ist auch wirklich eine interessante Frage. In Deutschland gibt es beispielsweise noch immer die Corona-Diskussion. Die hat einen wirtschaftlichen und einen politischen Aspekt. Meines Erachtens gibt es relativ klare wissenschaftliche Aussagen. Und als Firma muss man schauen, eine Corona-Politik zu fahren, die niemanden diskriminiert und die eigenen Mitarbeiter nicht gefährdet. Das ist schwierig, aber ich denke, es ist möglich.
Golem.de: Erst die Pandemie und Homeoffice, jetzt der Ukrainekrieg, bei dem sich viele Tech-Unternehmen schnell an den Sanktionen gegen Russland beteiligten: Hast du den Eindruck, dass sich beim politischen Bewusstsein von Unternehmen etwas verändert hat?
Jörg Ossenkopp: Die Aufgabe ist größer geworden. Und dadurch, dass die Aufgabe größer geworden ist, sind auch unsere Fähigkeiten größer geworden. Es gibt auch viele Firmen, die explizite Werte formulieren. Manche Firmen deklarieren etwa Diversität als expliziten Firmenwert. Da sollte man schauen, dass man sich auch entsprechend positioniert, wenn Diskussionen aufkommen, und auch dahintersteht.
Golem.de: Gibt es ein Learning aus deiner Perspektive als Freelance-CTO, das festangestellte IT-Leads von dir übernehmen können?
Jörg Ossenkopp: Man sollte versuchen, sich selbst überflüssig zu machen, statt sich selbst einfach unerlässlich zu machen, und die Technik entsprechend aufbauen. Das heißt, man sollte die Verantwortung als CTO nicht alleine tragen, sondern auf viele Schultern verteilen, indem man eine resiliente Teamstruktur baut. Eine, in der Leute ausfallen können, wo insbesondere du selbst ausfallen kannst und alle das Gefühl haben, dass sie was zu sagen haben. Wo das Team Ownership hat und es nicht zu einer Front zwischen dir als Chef und deinem Team kommt.
Das Team muss sich trauen, dir zu sagen, wenn du falsch liegst - weil häufig liegst du einfach falsch! Das ist auch deine Aufgabe als Chef, dich nicht mehr so gut mit den technischen Details auszukennen, denn da kennen sich doch hoffentlich deine Teammitglieder besser aus. Idealerweise kannst du eine Geschichte erzählen. Sagen: Das ist unser Weg, von da kommen wir, da gehen wir hin. Und diese Geschichte trägt, anstatt dass alles an deiner Person hängt.
Was ihr jetzt noch lesen solltet
Bis das Insolvenzverfahren für das Job-Portal 4Scotty geregelt ist, hat das Unternehmen einen Interim CTO eingestellt. Tatsächlich kommt es vergleichsweise selten zu diesem Fall(öffnet im neuen Fenster) . Von den jährlich neu eröffneten Insolvenzverfahren fällt nur ein Bruchteil in die Informationstechnologiebranche - trotz zahlreicher Krisen.
Sich selbst überflüssig zu machen, wie Jörg Ossenkopp es rät, wirkt in einer auf gerade Karrierepfade ausgelegten Arbeitswelt erst einmal widersprüchlich. Dabei macht ein Chef sich nur Probleme, wenn er unentbehrlich wird. Der bekannte Blogger (öffnet im neuen Fenster) , wie es ihn erdrückt hat, im Mittelpunkt des Unternehmens zu stehen:
"Ich war lange Zeit immer ansprechbar und wusste über alles Bescheid, so dass das ganze Unternehmen darauf konditioniert war, mich zu fragen, anstatt eigene Antworten zu finden. Und wenn ich etwas anderes vorschlug, stieß das auf Ablehnung. Ich war eine Krücke. Ich war eine Abkürzung. Ich war ein wandelndes Lexikon."
Darüber, wie man angesichts der andauernden Krisen mit dem Spannungsverhältnis von Resilienz und Erfahrungsoffenheit umgehen kann, schreibt unser CTO-Gesprächspartner Jörg Ossenkopp in seinem Blog(öffnet im neuen Fenster) . "Resilient zu sein, bedeutet, in instabilen und bedrohlichen Situationen psychologisch zurechtzukommen" , so der Philosoph und ITler.
"Offenheit gegenüber Erfahrungen ist risikofreudig und zu große Risikofreude bedeutet eine Verringerung der Resilienz." Nicht nur im Umgang mit schlechten Nachrichten, sondern auch im Unternehmen kommt es auf die richtige Balance an.
Was die Zukunft bringt, kann man ebenso wenig für die eigene Karriere wie für technologische Entwicklungen vorhersagen. In Ausgabe #8 von Chefs von Devs erzählt Teamviewer-CTO Mike Eissele, wie er mit der Innovation in die richtige Richtung zielt .
Burnout und Crunchtime sind auch für Mindaugas Mozūras von Vinted ein Thema - eins, mit dem er abgeschlossen hat. Wie er eine gesunde Arbeits- und Fehlerkultur für sich und sein Team aufbaut, lest ihr in Ausgabe #7 .
Dieser Beitrag ist die 9. Ausgabe von Chefs von Devs, dem Golem.de-Newsletter für CTO, Technical Directors und IT-Profis. Alle zwei Wochen erscheint eine neue Ausgabe. Chefs von Devs kann hier kostenlos abonniert werden .



