Ex-Verfassungsgerichtspräsident Papier: Die Politik stellt sich beim BND-Gesetz taub

Geheimdienste handeln verfassungswidrig, und die Politik stellt sich taub: Der ehemalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Hans-Jürgen Papier(öffnet im neuen Fenster) , erklärt im Interview, warum auch das neue BND-Gesetz daran nichts ändert.
Golem.de: Herr Prof. Papier, wie verändert die Digitalisierung die verfassungsrechtliche Sicht auf die Rolle der Geheimdienste?
Hans-Jürgen Papier: Auf der einen Seite haben sich die technischen Möglichkeiten der Erhebung, Speicherung, Auswertung und Übermittlung von Daten erheblich erweitert. Auf der anderen Seite gewinnen die informationstechnischen Systeme im Kommunikations- und Verbraucherverhalten der Menschen immer mehr an Bedeutung. Auch sind die technischen Möglichkeiten zur Beschränkung der Telekommunikationsverkehre nicht mehr auf das eigene Staatsgebiet beschränkt. Der grundrechtliche Schutz des Telekommunikationsverkehrs muss diesen räumlichen Erweiterungen der Ausübung von Staatsgewalt Rechnung tragen.
Eine globale und pauschale Überwachung lässt das Grundgesetz nicht zu
Golem.de: Für Ausländer, die im Ausland vom BND überwacht werden, gibt es quasi keine rechtlichen Einschränkungen der Überwachungsmöglichkeiten. Ihr Kollege Matthias Bäcker aus Karlsruhe beschreibt das so: "Der Bundesnachrichtendienst [darf] letztlich praktisch alle Ausland-Ausland-Telekommunikationsverkehre erfassen und auswerten, derer er habhaft werden kann. (...) Eine Grenze der Überwachung ergibt sich allein aus den Erfassungsmöglichkeiten und Auswertungskapazitäten des Bundesnachrichtendienstes" . Wie ist das verfassungsrechtlich zu bewerten?
Papier: Eine globale und pauschale Überwachung lässt das Grundgesetz auch zu Zwecken der Auslandsaufklärung nicht zu, sie würde gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz verstoßen. Es ist allerdings nicht ersichtlich, dass der Gesetzgeber mit der Novellierung des BND-Gesetzes hinreichende gesetzliche Vorkehrungen trifft, die eine solche Ausweitung verhindern. Allein die Tatsache, dass derzeit die personellen, organisatorischen, technischen und finanziellen Möglichkeiten des Nachrichtendienstes den Beschränkungsmaßnahmen faktisch Grenzen setzen, kann den rechtsstaatlichen Anforderungen an eine gesetzliche Limitierung nicht genügen.
Der Ansatz des BND-Gesetzes ist verfassungsrechtlich unhaltbar
Golem.de: Wie ist das im neuen BND-Gesetz geregelt?
Papier: Das Grundrecht auf Schutz des Telekommunikationsgeheimnisses nach Art. 10 Abs. 1 GG ist ein Menschenrecht, es steht mithin nicht nur Deutschen zu. Vom persönlichen Schutzbereich des Grundrechts ist der räumlich-territoriale Schutzbereich zu unterscheiden. Wäre der grundrechtliche Schutz des Telekommunikationsgeheimnisses auf das deutsche Staatsgebiet begrenzt, könnte der BND grundrechtlich unbeschränkt auf den Telekommunikationsverkehr im Ausland Zugriff nehmen.
Dieser Auffassung ist bisher die Bundesregierung gefolgt, sie liegt auch offensichtlich der jetzigen Entscheidung des Gesetzgebers beim neuen BND-Gesetz zugrunde. Diese Sicht ist aber verfassungsrechtlich unhaltbar. Sie widerstreitet nicht nur der nahezu einmütigen Rechtsauffassung der verfassungsrechtlichen Literatur, sie ist auch mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts unvereinbar.
Golem.de: Was fordert das Bundesverfassungsgericht zur Auslandsüberwachung?
Papier: Im Hinblick auf die Beschränkungen der internationalen Telekommunikationsverkehre hat das Bundesverfassungsgericht aus dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit materielle gesetzliche Limitierungen gefordert. So hat es beispielsweise eine Beschränkung auf besonders gewichtige Gefahrenbereiche betont. Nur wenn die strategischen Beschränkungen der Früherkennung besonders schwerwiegender Gefahren dienen, können sie verhältnismäßig sein.
Die Politik stellt sich taub
Eine solche Begrenzung der Gefahrenbereiche erfolgt in der Neuregelung des BND-Gesetzes eindeutig nicht. Auch ist keine Beschränkung im Hinblick auf die Ausnutzung der Kapazitäten vorgesehen, wie sie beispielsweise im § 10 Abs. 4 S. 4 G10-Gesetz geregelt ist. Überdies ist kein Ausschluss von Suchbegriffen vorgenommen worden, welche die gezielte Erfassung von Telekommunikationsanschlüssen ermöglichen.
Die Politik stellt sich offenbar im Hinblick auf diese fast einmütig vorgebrachten Einwände der Rechtswissenschaft taub. Am Ende wird voraussichtlich das Bundesverfassungsgericht letztverbindlich über diese grundsätzliche Streitfrage entscheiden müssen.
Zugriff des BND auf Internetknoten ist rechtswidrig
Golem.de : Wie sind die Zugriffe auf Internetknoten rechtlich zu bewerten?
Papier: Beschränkungen des Telekommunikationsgeheimnisses im internationalen Telekommunikationsverkehr erfordern eine besondere gesetzliche Limitierung. Der BND darf laut Artikel-10-Gesetz bis zu 20 Prozent des internationalen Fernmeldeverkehrs zwischen Deutschland und dem Ausland nach Stichworten durchsuchen. Moderne sogenannte paketvermittelte Systeme der Telekommunikation sind indes unter technischen Gesichtspunkten nicht mehr vergleichbar mit den Gegebenheiten einer klassischen leitungsgebundenen Übertragung.
Damit sind die auf den verfassungsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zurückzuführenden und vom Bundesverfassungsgericht daher zu Recht geforderten Begrenzungen der strategischen Telekommunikationsüberwachung durch den BND an einem Internetknoten ziemlich wirkungslos. Davon abgesehen fehlen gesetzliche Kapazitätsbeschränkungen der strategischen Telekommunikationsüberwachung durch den BND im Hinblick auf die reinen Auslandsverkehre völlig.
Golem.de: Sie haben noch weitere verfassungsrechtliche Bedenken gegen das Abgreifen von Daten an Internetknotenpunkten.
Papier: Ja. Beim Abgreifen von Daten an Internetknoten kommt ein weiterer Einwand hinzu. An einem Internetknoten kann nicht zwischen nationalen, internationalen und rein ausländischen Telekommunikationsbeziehungen bzw. -verkehren differenziert werden. Demgemäß ist davon auszugehen, dass von der Durchführung der strategischen Beschränkungsmaßnahmen an Internetaustauschknoten im Regelfall sowohl Inlandsverkehre, internationale Verkehre als auch Auslandsverkehre und Transitverkehre betroffen sind. Bei einer Ausleitung an einem Datenaustauschpunkt kann mit anderen Worten sowohl in rechtlicher als auch in tatsächlicher Hinsicht nicht sichergestellt werden, dass die gesetzlichen Eingriffsvoraussetzungen gewahrt werden.
Golem.de: Was bedeutet es, dass auch die Daten deutscher Bürger, ebenso wie die der Daten von Ausländern zunächst abgegriffen und verarbeitet werden? Erst in einem zweiten Schritt soll der Datenverkehr von Deutschen herausgefiltert werden - aus technischen Gründen werden das aber sicher nicht alle sein. Ist das zugunsten einer effektiven Arbeit der Geheimdienste hinzunehmen?
Schon die Datenerfassung am Knotenpunkt verletzt das Grundrecht
Papier: Schon in der Datenerfassung selbst ist ein Eingriff in das Grundrecht auf Schutz des Telekommunikationsgeheimnisses zu sehen, sofern sie die Kommunikation für den BND verfügbar macht und die Grundlage für nachfolgende Abgleiche mit Suchbegriffen bildet.
Zwar wird es an einer Eingriffsqualität fehlen, wenn Telekommunikationsvorgänge ungezielt und allein technisch bedingt zunächst miterfasst, dann aber unmittelbar nach der Signalaufbereitung technisch wieder ausgesondert werden, ohne eine Spur zu hinterlassen. Dagegen ist nach der Judikatur des Bundesverfassungsgerichts die Eingriffsqualität gegeben, wenn die erfassten Daten nicht sofort bestimmten Personen zugeordnet werden können.
Der Grundrechtseingriff liegt also schon in der Erfassung, die dem Abgleich anhand der angeordneten Suchbegriffe vorgelagert ist. Diese Eingriffswirkung wird noch dadurch verstärkt, dass eine nachfolgende Filterung offenbar nicht hinreichend gelingt. Auf diese Weise Telekommunikationsverkehre zunächst mitzuerfassen, die dem BND nach der Gesetzeslage eindeutig nicht zur Verfügung stehen dürfen, ist unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten nicht legitimierbar.
Geheimdienste arbeiten zusammen, aber gegen die Verfassung
Golem.de: Seit den Enthüllungen von Edward Snowden stehen deutsche Geheimdienste im Zentrum der öffentlichen Kritik. Wie beurteilen Sie die bekanntgewordene Praxis des BND aus verfassungsrechtlicher Sicht?
Papier: Soweit ausländische Dienste dem BND Selektorenlisten bereitstellen und diese Selektoren vom BND eingesetzt werden, um so gewonnene Daten an ausländische Dienste weiterzugeben, ist dies sehr problematisch. Denn der Einsatz von Selektoren, die von ausländischen Stellen zur Verfügung gestellt werden, ist ohne eine Bewertung der auf der Basis dieser Selektoren erlangten Ergebnisse nach G10-Gesetz (Paragraf 7a, Abs. 1) nicht zulässig.
Golem.de: Im neuen BND-G gibt es nun erstmals Vorschriften über Einzelheiten der Kooperation mit ausländischen Geheimdiensten. Wie bewerten Sie diese?
Papier: Mit der BND-Novelle wird die Kooperation im Rahmen der Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung mit ausländischen öffentlichen Stellen auf eine neue rechtliche Grundlage gestellt. Danach dürfen im Rahmen der Kooperation erhobene Informationen einschließlich personenbezogener Daten ausländischen öffentlichen Stellen auch automatisiert übermittelt werden. Voraussetzung ist unter anderem, dass die sofortige Übermittlung erforderlich ist, um die Kooperationsziele zu erreichen.
Die Kooperation mit ausländischen Geheimdiensten basiert auf einer falschen Grundannahme
Diese weitgehende Ermächtigung des Gesetzgebers zur automatisierten Datenübermittlung an ausländische Dienste basiert offenbar auf der - in meinen Augen verfehlten - Grundannahme, dass Beschränkungen, welche die Ausland-Ausland-Telekommunikation betreffen, nicht unter den Schutz des Grundgesetzes (Artikel 10) fallen. Deswegen wird von Gesetzes wegen auch auf eine Bewertung der erlangten Ergebnisse, wie dies das Artikel-10-Gesetz (Paragraf 7a, Abs. 1) vorsieht, verzichtet.
Golem.de: Was ändert sich, wenn man davon ausgeht, dass der Schutz des Telekommunikationsgeheimnisses auch hierfür relevant ist?
Papier: Geht man zutreffenderweise davon aus, dass auch die Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung des BND grundrechtsgebunden zu erfolgen hat, ist eine solche automatisierte Weitergabe ohne Beurteilung und Abwägung im Hinblick auf weitergeleitete personenbezogene Daten verfassungsrechtlich problematisch.
Golem.de: Wie sieht es mit der Verwendung der weitergegebenen Daten aus?
Papier: Mir scheint nach dem neuen BND-Gesetz nicht hinreichend gesichert zu sein, dass die weitere Verwendung der so erlangten Daten durch die ausländischen Stellen ausschließlich in einer adäquaten rechtsstaatlichen Art und Weise erfolgt. Insoweit verlangt das Gesetz lediglich, dass zwischen dem BND und der ausländischen öffentlichen Stelle in einer "Absichtserklärung" schriftlich niederzulegen ist, dass die im Rahmen der Kooperation erhobenen Daten nur zu dem Zweck verwendet werden dürfen, zu dem sie erhoben wurden, und die Verwendung mit grundlegenden rechtsstaatlichen Prinzipien vereinbar sein muss.
Eine solche Absichtserklärung erscheint mir eine zu vage Sicherung zu sein. Im Hinblick auf die Einhaltung dieser Voraussetzungen bei den ausländischen Stellen müsste in jedem Fall eine effizientere und zeitgerechte Überprüfung durch die zuständigen Kontrollgremien hinzutreten.
Der perfekte Geheimdienst
Golem.de: Ein Novum der Geheimdienstkontrolle ist das sogenannte unabhängige Gremium aus zwei Bundesrichtern und einem Bundesgeneralanwalt. Glauben Sie, dass die Karlsruher Juristen für eine effektive Zähmung der Umtriebe in den Nachrichtendiensten sorgen können?
Papier: Das neu zu schaffende unabhängige Gremium ist in meinen Augen verfassungsrechtlich nicht haltbar. Aufgrund des Art. 10 Abs. 2 S. 2 des Grundgesetzes gibt es unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten nur die Alternative: entweder eine Kontrolle durch die rechtsprechende Gewalt der Gerichte oder eine Nachprüfung durch von der Volksvertretung bestellte Organe und Hilfsorgane. Der mit der BND-Novelle eingeschlagene Weg einer exekutivischen Kontrollinstanz in Gestalt des Unabhängigen Gremiums ist unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten ein Fehlgriff.
Golem.de Was muss sich bei der Kontrolle der Geheimdienste ändern?
Papier: Die Regelungen zur Kontrolle der Geheimdienste sollten überdacht werden. Dabei muss berücksichtigt werden, dass nach der rechtsstaatlichen Ordnung des Grundgesetzes in erster Linie eine richterliche Kontrolle der öffentlichen Gewalt geboten ist. Auch im Hinblick auf die geheimdienstlichen Tätigkeiten sollte über einen Ausbau der gerichtlichen Kontrolle nachgedacht werden, die Verfassung selbst lässt eine Ersetzung der richterlichen Kontrolle durch von der Volksvertretung bestellte Organe und Hilfsorgane ohnehin nur dann zu, wenn die Beschränkungsmaßnahmen dem Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung oder des Bestandes oder der Sicherung des Bundes oder eines Landes dienen.
Außerhalb dieser Gefahrenbereiche unterliegt die Tätigkeit der Nachrichtendienste zweifelsohne der Kontrolle durch die rechtsprechende Gewalt. In keinem Fall reicht eine Kontrolle durch exekutivische Organe.
Golem.de: Wie müsste ein wünschenswerter, verfassungskonformer Auslandsgeheimdienst in Zeiten der Digitalisierung aussieht?
Papier: Die verfassungsrechtlich unhaltbare Herausnahme der Auslandsaufklärung durch Beschränkungen der Telekommunikationsverkehre im Ausland unter Ausländern muss aufgegeben werden. Ferner muss der Gesetzgeber berücksichtigen, dass bei einer Ausleitung aus den sogenannten Datenaustauschpunkten sowohl in rechtlicher als auch in tatsächlicher Hinsicht offenbar nicht sichergestellt werden kann, dass die schon bestehenden gesetzlichen Eingriffsvoraussetzungen gewahrt werden.
Zum anderen werden aufgrund der Tiefe und Breite der Eingriffe in das Telekommunikationsgeheimnis auch die verfassungsrechtlichen Eingriffsschranken, insbesondere der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz missachtet beziehungsweise überschritten. Deshalb sind Zugriffe des Nachrichtendienstes auf diese Austauschpunkte insgesamt rechtswidrig. Eine Überwachung bei den Anbietern internationaler Leitungen hätte eine weitaus geringere Eingriffsintensität, die zielgerichteter und fokussierter internationale Telekommunikationsverkehre sowohl unter geographischen Gesichtspunkten als auch hinsichtlich des Anteils der zu überwachenden Telekommunikation betreffen würde.
Im Hinblick auf die Weiterleitung personenbezogener Daten an ausländische Dienste müssen die gesetzlichen Vorgaben ebenso wie die Kontrolle durch gerichtliche oder parlamentarische Kontrollgremien präzisiert und verstärkt werden. Es muss darum gehen, effektiv zu gewährleisten, dass die so weitergegebenen Daten ausschließlich in einer adäquaten rechtsstaatlichen Art und Weise durch die ausländischen Stellen verwendet werden.
Golem.de : Wir danken Ihnen für dieses Gespräch!
Michael Kolain beschäftigt sich aus juristischer Perspektive mit dem digitalen Wandel. Er forscht im Programmbereich Digitalisierung am Forschungsinstitut für öffentliche Verwaltung Speyer(öffnet im neuen Fenster) und ist als freier Autor und Lektor tätig.



