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European Sky Shield: So will Europa sich besser in der Luft verteidigen

Europas Luft- und Raketenabwehr hat große Lücken. Der European Sky Shield soll einige schließen, doch viele Systeme existieren erst als Projekt.
/ Friedrich List
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Lenkflugkörper des Flugabwehrraketensystems Patriot (Bild: Bundeswehr)
Lenkflugkörper des Flugabwehrraketensystems Patriot Bild: Bundeswehr

Der Luftkrieg verändert sich. Der jüngste Zwölf-Tage-Krieg zwischen Israel und dem Iran zeigte, wie verwundbar selbst ein Land mit moderner Luft- und Raketenabwehr wie Israel gegen eine massive Angriffskampagne ist. Im Ukrainekrieg zeigte Russland, dass es von Drohnen über Marschflugkörper und ballistische Raketen bis hin zu neuartigen Hyperschallwaffen über ein breites Spektrum an Offensivwaffen verfügt.

Jüngst gab Russland die Stationierung von Langstreckenraketen vom Typ RS-26 Oreshnik in Weißrussland bekannt. Die Oreshnik ist die Abart einer Interkontinentalrakete. Sie kann auch mit konventionellen Sprengköpfen oder mit Hyperschall-Flugkörpern bestückt werden. Russische Militärexperten diskutieren darüber, ob man sie als Vergeltungswaffe benutzt, sollte die Ukraine deutsche Taurus-Lenkwaffen einsetzen.

Damit stellt sich einmal mehr die Frage nach der Stärke der europäischen Raketenabwehr. Denn die RS-26 kann fast ganz Mittel- und Westeuropa angreifen. Europa und selbst die USA haben dieser Bedrohung wenig entgegenzusetzen.

Wo Europas Luft- und Raketenabwehr Lücken hat

Es gibt zwar eine Nato-weite Kommandostruktur für die Luftabwehr, aber die realen Abwehrkapazitäten wie Flugabwehrraketen, Frühwarnsysteme und Jäger sind schon lange nicht mehr so stark wie zu Zeiten des Kalten Krieges.

Die europäischen Nato-Länder haben ihre Flugabwehrtruppen stark reduziert und in Teilen sogar aufgelöst. Abwehr gegen russische Hyperschallflugkörper, etwa die Kinshal oder eine mit Hyperschallflugkörpern bestückte Oreshnik, ist zurzeit nicht möglich.

Um zu verstehen, um welche Höhen es bei der Flug- und Raketenabwehr geht, stellen wir die vier Wirkungsbereiche hier kurz vor:

  • Unterer Höhenbereich: Er reicht vom Boden bis in sechs Kilometer Höhe. Flugkörper fliegen bis zu 15 Kilometer weit.
  • Mittlerer Höhenbereich: Er reicht 15 bis 50 Kilometer weit und bis in 25 Kilometer Höhe.
  • Oberer Höhenbereich: Er liegt darüber und reicht, je nach Waffensystem, bis in 35 Kilometer Höhe.
  • Sehr großer Höhenbereich: Er umfasst Entfernungen von über 100 Kilometern - bis hinauf an den Rand der Atmosphäre in etwa 100 Kilometern Höhe.

Unterer Höhenbereich kaum geschützt

Weitgehend ungeschützt ist der untere Höhenbereich, da die Bundeswehr zwischen 2010 und 2012 ihre Heeresflugabwehr aufgelöst hat. Die Waffensysteme Roland und Gepard wurden außer Dienst gestellt. Die mit Stinger-Kurzstreckenraketen bestückten Waffenträger Ozelot wurden der Luftwaffe zugewiesen, sind aber im Moment das einzige System, das Panzer im Gelände und im Kampf beschützen kann.

Das allerdings eher schlecht als recht, denn das kleine Ozelot-Kettenfahrzeug kann mit Kampfpanzern und Schützenpanzern im Gelände nicht Schritt halten. Das Fahrzeug basiert auf einem leichten, ungepanzerten Kettenfahrzeug für die Luftlandetruppe.

Inzwischen ändert sich das jedoch. Die Bundeswehr führt Iris-T ein, das auf der gleichnamigen Luft-Luft-Rakete basiert. Das System fährt auf geländegängigen Lkw und erlebte seinen ersten scharfen Einsatz in der Ukraine.

Zwei Schutzsysteme für mittlere Höhen

Den mittleren Höhenbereich schützen zurzeit zwei Systeme. Die Luftwaffe verfügt über das 1989 eingeführte Patriot-System. Aber den ursprünglichen Bestand von 36 Staffeln dünnte man Anfang des Jahrtausends auf 11 aus. "Die deutsche Flugabwehr könnte Stand 2024 gerade einmal die Fläche Berlins decken, die Situation in anderen (Nato-)Ländern ist vergleichbar" , schrieben Hannes Fritz und Leonard Kleiber in einer Analyse für die Zeitschrift des Reservistenverbandes(öffnet im neuen Fenster) .

Die Marine hat auf ihren drei Fregatten(öffnet im neuen Fenster) das ebenfalls amerikanische Standard-SM-2-System(öffnet im neuen Fenster) im Einsatz. Diese Schiffe dienen jedoch zur Verteidigung von Flottenverbänden. Sie sollen mit dem neueren SM-3-System ausgestattet werden, das sich besser zur Abwehr ballistischer Raketen eignet.

Ersetzt wird die Klasse 124 durch die Fregatten Klasse 127, die Teil der europäischen Raketenabwehr sein sollen. Aber sie werden wohl erst ab 2033/34 fertig sein. Nato-Länder wie Frankreich, Großbritannien, Italien und Spanien sind hier ähnlich aufgestellt.

US-Systeme zur Abwehr in oberen Höhen

Für das obere Höhensegment stellen nur die USA Waffen- und Frühwarnsysteme zur Abwehr strategischer ballistischer Raketen bereit. Das THAAD(öffnet im neuen Fenster) -System ist mobil. Die Flugkörper erreichen Mach 10 und fliegen bis zu 200 Kilometer weit und 150 Kilometer hoch. Allerdings ist nur eine einzige Batterie in Europa stationiert.

Hinzu kommen zwei ortsfeste Aegis/Standard-SM-3-Komplexe, einer in Polen, der andere in Rumänien. Aegis(öffnet im neuen Fenster) wird üblicherweise auf Kriegsschiffen zusammen mit Standard-SM-3-Flugabwehrraketen verwendet. Die USA begründen die Stationierung dieser Komplexe mit der Notwendigkeit, Europa gegen Raketenangriffe aus dem Iran zu verteidigen(öffnet im neuen Fenster) .

ESSI: Aufbau einer europäischen Luftabwehr

Um ein verbessertes europäisches Luftverteidigungs- und Raketenabwehrsystem aufzubauen, wurde auf deutsche Initiative die European Sky Shield Initiative (ESSI) gegründet. Am 13. Oktober 2022 unterzeichneten 15 europäische Nato-Staaten, darunter die Bundesrepublik, Frankreich, Italien und Großbritannien, eine gemeinsame Erklärung über die zukünftige Zusammenarbeit. Nach und nach schlossen sich alle europäischen Nato-Länder an, außerdem die Schweiz und Österreich.

Ziel von ESSI ist die gemeinsame Entwicklung, Produktion und Beschaffung neuer Abwehrsysteme und den dazugehörigen Überwachungs- und Frühwarnsystemen. Die Beteiligten hoffen, durch die größeren Stückzahlen die einzelnen Systeme billiger zu bekommen. Gleichzeitig wollen die europäischen Staaten unabhängiger von den USA werden. Ohne deren Kapazitäten wäre Europa aktuell kaum gegen Luft- und Raketenangriffe zu verteidigen. ESSI soll auch die Entwicklung neuer Frühwarnsysteme ankurbeln. Zu denen gehören nicht nur bodengebundene Radars und Kommunikationsnetze, sondern auch Frühwarn- und Kommunikationssatelliten im Weltraum.

ESSI: Neue Abwehrwaffen für alle Höhen

ESSI sieht neue Waffensysteme in allen vier Höhenbereichen vor. Im niedrigen Höhenbereich soll Skyranger(öffnet im neuen Fenster) in zwei Versionen eingeführt werden. Die Version mit 30-mm-Schnellfeuerkanone fährt auf einem Radpanzer und schützt Truppenverbände vor Luftangriffen. Die zweite Version mit Iris-T-Flugkörpern hat im Prinzip dieselbe Aufgabe.

Für die Abwehr im mittleren Höhenbereich soll die neue Version Iris-T-SLS(öffnet im neuen Fenster) eingeführt werden. Zum Teil greift hier auch schon das Patriot-System, das auch den oberen Höhenbereich verteidigen soll. Um mehr Patriot-Systeme zur Verfügung zu haben, wird die Rakete neuerdings in Europa, auch in Deutschland, produziert.

Das Höhensegment darüber, bis über die Atmosphäre, soll das amerikanisch-israelische Arrow 3-System übernehmen, später auch Arrow 4. Arrow 3(öffnet im neuen Fenster) fliegt bis zu 2.400 Kilometer weit und soll nicht nur Hyperschall-Flugkörper abfangen können. Mit dieser Rakete will man auch ballistische Raketen bekämpfen, bevor sie ihre Sprengköpfe ausgesetzt haben.

Überwachung auch aus dem All

Es steht aber nicht nur eine neue Generation von Überwachungsradaren auf dem Programm, sondern auch eigene Satelliten-Konstellationen für Frühwarnung und Kommunikation sind geplant. Iris 2(öffnet im neuen Fenster) hat mit dem gleichnamigen Raketensystem nichts zu tun. Die Buchstaben stehen für Infrastructure für Resilience, Interconnectivity and Security by Satellite, auf Deutsch etwa Satelliten-Infrastruktur für Widerstandsfähigkeit, Interkonnektivität und Sicherheit.

Bis 2030 sollen 290 Satelliten ins All starten und dann die Kommunikation zwischen staatlichen Behörden, militärischen Befehlsstellen und zivilen Hilfsdiensten gewährleisten. Außerdem soll Iris 2 auch den Luftraum überwachen und vor anfliegenden Raketen warnen. Die EU will 2,4 Milliarden Euro dafür ausgeben.

Der Sonderweg Italiens und Frankreichs

Derweil setzen nicht alle europäischen Nato-Staaten bei der Luftverteidigung auf das Patriot-System. Italien, Frankreich und andere Länder wollen sich nicht zu sehr von US-Technik abhängig machen. Außerdem sehen sie Deutschlands Führungsrolle bei ESSI kritisch. Sie haben gemeinsam mit Großbritannien SAMP/T oder Aster(öffnet im neuen Fenster) entwickelt und 2002 eingeführt. Die Arbeit an Aster begann 1985, 1989 schloss sich Großbritannien an.

Bei SAMP/T handelt es sich nicht um eine einzelne Rakete, sondern eine ganze Familie von Zweistufenraketen. Das Waffensystem besteht aus einem Kill Vehicle und einem Booster. Es kann sowohl von Land als auch von Schiffen aus eingesetzt werden. Aster 15 ist die Kurzstreckenversion. Aster 30 hat einen größeren Startbooster und deckt die mittleren Entfernungen ab. Die Lenkwaffe kann ballistische Raketen in bis zu 600 Kilometern Entfernung bekämpfen.

Die jüngste Version Aster 30 Block1 NT hat eine Reichweite von 1.500 Kilometern und wird seit etwa zehn Jahren produziert. Aster 30 Block 2 ist eine komplette Neuentwicklung, die doppelt so weit fliegt, aber noch nicht produziert wird. Deren Kill Vehicle soll auch Ziele außerhalb der Atmosphäre treffen können. Aster wird exportiert und ist auch in der Ukraine im Einsatz. Block 2 soll in den kommenden Jahren in Produktion gehen.

Die Twister/Hydis(öffnet im neuen Fenster) -Kombination ist ein europäisches Projekt unter französischer Federführung. Es läuft seit 2019. Dabei geht es ebenfalls um die Entwicklung eines Frühwarnsystems im Weltraum und um den Hydis-Flugkörper, der Hyperschallwaffen und neuartige manövrierfähige ballistische Raketen oberhalb der Atmosphäre bekämpfen soll. Bis 2030 sollen Prototypen bereitstehen, aber bislang existieren nur Studien.

Die Waffensysteme im Überblick

European Sky Shield - Systeme im Einsatz
System Funktion Eingeführt Betreiber Status
Patriot PAC 2/3 Abwehr in mittleren und großen Höhen, Abwehr ballistischer Raketen Seit 1985, Bundeswehr ab 1989 USA, in Europa die meisten Nato-Länder, Ukraine, Japan und andere US-Verbündete Aktiv
Standard SM-2 Abwehr in mittleren und großen Höhen, Abwehr ballistischer Raketen Ab 1981, Deutsche Marine ab November 2004 USA und Verbündete, Deutsche Marine auf F124 Aktiv
Aster/SAMP/T Je nach Version Abwehr in geringen Höhen oder in mittleren und großen Höhen Ab 2010 Frankreich, Großbritannien (Marineversion) Italien, Spanien, Ukraine Aktiv
IRIS-T Abwehr in geringen und mittleren Höhen 2022 Deutschland, Ukraine Aktiv
Arrow 3 Abwehr in mittleren und großen Höhen und außerhalb der Atmosphäre In Israel ab 2000, in Deutschland ab Ende 2025, in den USA als Teil des Golden Dome Gemeinschafts-Projekt Israel, USA, Produktion in Deutschland Aktiv
European Sky Shield - Systeme in Einführung
System Funktion Einsatzbereit Betreiber Status
SAMP/T NG Allzweck-Luftabwehr und Raketen außerhalb der Atmosphäre Ab 2025/2026 Frankreich, Italien, Niederlande Wird eingeführt
Arrow 4 Luftabwehr und Raketenabwehr in großen Höhen und außerhalb der Atmosphäre Weiterentwicklung von Arrow 2, Projekt läuft seit 2021 Israel, USA, Deutschland Wird in Israel entwickelt, Deutschland hat sich für Beschaffung entschieden
GM400 Alpha Frühwarn- und Luftraum-Überwachungs-Radar Erste Systeme seit 2024 Frankreich, Italien, weitere NATO-Länder Wird eingeführt
Standard SM-3 Flug- und Raketenabwehr in mittleren und großen Höhen In USA seit 2005 im Einsatz, danach auch in Japan, Süd-Korea, Australien USA und Verbündete; landgestützte US-Systeme in Polen und Rumänien Wird von Deutschland für Flugabwehrfre-gatten beschafft
IRIS2 Satellitennetz zur Kommuni-kation und Frühwarnung Erste Satelliten ab 2026, volle Einsatzbereit-schaft ab 2030 EU Im Aufbau, Verträge vergeben
European Sky Shield - Systeme in Planung
System Funktion Einsatzbereit Betreiber Status
Twister/HYDIS2 Hyperschall- und Raketenabwehr aus dem All Vermutlich ab 2030 Frankreich, Italien, Spanien, Finnland, Niederlande, Deutschland In Entwicklung
Fregatte 127 Schwimmende Plattform zur Raketenabwehr In Dienst wahrscheinlich 2033/34 Deutschland In Planung

Bis der European Sky Shield den Kontinent tatsächlich schützen kann, dürften allerdings noch Jahre vergehen.

Wie sicher wären wir mit dem neuen Abwehrsystem?

Viele wichtige Systeme existieren erst als Projekt. Die gefährlichste Lücke klafft bei der Abwehr von Hyperschallwaffen und den neuen ballistischen Raketen, die während des Fluges manövrieren können. Auch dürfte die Einführung von unabhängig steuerbaren Gefechtsköpfen nicht mehr lange auf sich warten lassen.

Der erste Einsatz der russischen RS-26 Oreshnik zeigt, was eine ballistische Rakete mit Hyperschall-Flugkörpern anrichten kann. Die in der Ukraine eingesetzten Gefechtsköpfe trafen ihre Ziele mit Mach 10 und brauchten wegen der hohen Geschwindigkeit keinen Sprengstoff. Die Wucht reichte völlig aus. Außerdem kann Russland mit dieser Waffe auch über extrem große Entfernungen Punktziele präzise treffen.

Hier rächt sich, dass der Westen in den letzten Jahrzehnten seine Forschung an Hyperschall-Technologien massiv vernachlässigt hat. Der russische - und chinesische - Vorsprung wird sich so schnell nicht aufholen lassen.

ESSI kostet Milliarden

ESSI dürfte vor allem teuer werden. Die Bundeswehr wird drei Arrow-3-Systeme an drei Standorten stationieren. Kostenpunkt(öffnet im neuen Fenster) : 4,6 Milliarden Euro. Eine einzige Iris-T-Feuereinheit kosten 140 Millionen Euro, ein einziger Flugkörper 400.000 Euro. Für den Ausbau der europäischen Rüstungsindustrie soll ein Betrag von um die 800 Milliarden Euro aufgewendet werden, überwiegend aus Schulden. Zudem ist es immer billiger, Angriffswaffen in Massen herzustellen als Abwehrraketen und ihre Führungs- und Leitsysteme.

Aber auch der komplette europäische Raketenschirm wird nicht den ganzen Kontinent schützen können, sondern nur ausgewählte Ziele. Zudem kann jede Abwehr durch eine genügend hohe Zahl angreifender Flugkörper überwältigt werden. Entweder der Gegner schickt so viele Flugkörper, dass die Abwehr nur noch einen geringen Teil bekämpfen kann. Oder er greift so lange an, bis die Abwehrraketen knapp werden. Am Ende werden Politiker entscheiden müssen, was verteidigt wird und was preisgegeben werden muss.


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