EuGH-Urteil: EU muss verbindliche Normen kostenlos veröffentlichen

Ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) zur Veröffentlichung von Industrienormen könnte große Auswirkungen auf die Standardisierungsprozesse in der EU haben. In einem Urteil vom 5. März 2024 entschied das höchste EU-Gericht, dass die EU-Kommission Normen veröffentlichen muss, wenn ein "überwiegendes öffentliches Interesse an der Verbreitung" besteht ( Rechtssache C-588/21(öffnet im neuen Fenster) ). Dies sei beispielsweise dann der Fall, wenn die Einhaltung der Normen zwingend und diese "harmonisierten Normen Teil des Unionsrechts sind" . Doch das betrifft nur rund 13 Prozent aller europäischen Normen.
Hintergrund des Urteils waren Klagen der US-amerikanischen Organisationen Public Resource.Org und der irischen Organisation Right to Know. Diese forderten einen kostenlosen Zugang zu mehreren EU-Normen über die Sicherheit von Spielzeug, beispielsweise zu Experimentierkästen für chemische und ähnliche Versuche (EN 71-4:2013-05). Der Erwerb dieser Norm kostet beim Beuth-Verlag, der die DIN-Normen vertreibt, aktuell mehr als 100 Euro(öffnet im neuen Fenster) .
Einhaltung der Norm muss zwingend sein
Der EuGH vertritt nun den Standpunkt, dass EU-Bürgern nach der Verordnung 1049/2001(öffnet im neuen Fenster) ein "größtmöglicher Zugang zu Dokumenten" des Europaparlaments, der EU-Kommission und des Ministerrates zu gewährleisten sei. Zwar formuliere Artikel 4 der Verordnung Ausnahmen, wie den Schutz des geistigen Eigentums, doch bei einem "überwiegenden öffentlichen Interesse" dürfe die Verbreitung nicht verweigert werden.
Das ist nach Einschätzung des Gerichts der Fall, wenn die Einhaltung einer EU-Norm "offensichtlich zwingend" ist. Dies treffe im konkreten Fall zu. Daher kommt der EuGH zu dem Schluss: "Eine harmonisierte Norm kann somit durch die Wirkungen, die ihr eine Unionsvorschrift verleiht, Einzelnen eingeräumte Rechte sowie ihnen obliegende Pflichten näher bestimmen, und diese näheren Bestimmungen können erforderlich sein, damit der Einzelne prüfen kann, ob ein bestimmtes Produkt oder eine bestimmte Dienstleistung tatsächlich die Anforderungen einer solchen Vorschrift erfüllt."
In der Praxis dürfte sich die Frage stellen, welche EU-Normen "zwingend" sind, so dass ein "überwiegend öffentliches Interesse" an deren Verbreitung besteht.
3.000 gelistete Normen betroffen
In einer Pressemitteilung zur Urteilsverkündung äußerte sich das Deutsche Institut für Normung (DIN) eher positiv. Man begrüßte, dass der EuGH nicht die Forderung der Kläger und der EU-Generalanwältin erfüllt habe, "den Urheberrechtsschutz für harmonisierte Normen generell auszuschließen" . Das Urteil stelle zudem nicht in Frage, dass der Zugang zu Dokumenten auf Basis bestehender Urheberrechtsvorschriften eingeschränkt werden könne.
Möglicherweise findet das Urteil Anwendung auf die sogenannten harmonisierten Normen(öffnet im neuen Fenster) . Darunter werden Normen verstanden, die von der EU-Kommission und der Europäischen Freihandelsassoziation (EFTA) in Auftrag gegeben und im Amtsblatt der Europäischen Union gelistet wurden. Einem DIN-Sprecher zufolge betrifft dies etwa 3.000 Normen, wobei nicht alle harmonisierten Normen gelistet seien.
Die 3.000 gelisteten Normen machen jedoch nur einen kleinen Anteil von 13 Prozent der 23.000 europäischen Normen aus. Das heißt: Sämtliche anderen Normen können weiterhin gegen Gebühr vertrieben werden. Darüber hinaus können Organisation wie das DIN auch die harmonisierten Normen weiterhin gegen Gebühr anbieten. Denn das Urteil bezieht sich nur auf die EU-Kommission. In welcher Form die harmonisierten Normen bereitgestellt werden müssen, geht aus dem Urteil ohnehin nicht hervor.
Kläger-Kanzlei erwartet "vollständige Neuordnung"
Die Anwälte der Kläger schätzen die Entscheidung anders ein. "Die EU-Kommission dürfte nun kostenlosen Zugang zu allen harmonisierten Normen gewähren müssen, da sie Teil des EU-Rechts sind. Dies wird eine vollständige Neuordnung des Europäischen Normungssystems erfordern. Die europäischen Normungsorganisationen, aber auch nationale Organisationen wie das DIN in Deutschland, werden von Unternehmen und Privatpersonen künftig daher nicht mehr verlangen können, harmonisierte Normen für viel Geld zu kaufen. Damit werden harmonisierte Normen als Teil des EU-Rechts endlich frei zugänglich sein" , teilte die Kanzlei Morrison Foerster mit(öffnet im neuen Fenster) .
Große Auswirkungen erwartet auch Industrieanwalt Thomas Klindt von der Kanzlei Noerr. "Das Urteil im sogenannten Malamud-Verfahren stellt das gesamte europäische System der freiwilligen technischen Normung zur Disposition - nicht nur im Hinblick auf Normen zur Sicherheit von Spielzeug. Für die Industrie steht viel auf dem Spiel, denn nun ist völlig offen, wie zukünftig neue technische Normen (weiter) entwickelt werden" , sagte nach Angaben der VDI-Nachrichten.
Noch ist unklar, wie die EU-Kommission das Urteil umsetzt und in welcher Weise die harmonisierten Normen künftig verbreitet werden. Ebenfalls ist offen, wie hoch die Einnahmeverluste der Normungsorganisationen wie DIN ausfallen werden. Diese hat dem Sprecher zufolge derzeit 700 Mitarbeiter, die die Normierungsprozesse koordinieren und unterstützen.
Wir haben im zweiten Absatz der zweiten Seite etwas präzisiert. Damit wird klargestellt, wann eine Norm als harmonisiert gilt.



