Entlassungswelle in den USA: Es könnte eine Chance für Deutschland sein

Das Silicon Valley ist geografisch gesehen gar kein Tal, sondern ein etwa 70 Kilometer langer und 30 Kilometer breiter Landstrich im äußersten Westen der USA. Die Gegend erstreckt sich südlich von San Francisco in Richtung San José. Dieser Teil Kaliforniens ist der bedeutendste High-Tech-Standort der Welt. Fast alle großen US-amerikanischen IT-Unternehmen haben ihren Sitz oder Niederlassungen im Silicon Valley. Amazon, Google und Microsoft sind dort Nachbarn. Wenn eines dieser Unternehmen Entlassungen von Mitarbeitern ankündigt, zuckt die Welt leicht zusammen. Wenn das, wie es jetzt passiert, alle tun, scheint der Planet gleich unterzugehen.
Denn das Silicon Valley ist Sinnbild für technische Innovationen, für wirtschaftliches Wachstum und neue Jobs. Die Welt orientiert sich an diesem Tal, und wenn es ihm schlecht geht, leitet der große Rest der Erde davon ab, dass er ebenfalls in eine Krise stürzt. Schließlich ist das Silicon Valley Vorreiter. Im Guten wie im Schlechten.
Ende des letzten Jahres setzten die negativen Nachrichten aus dem Silicon Valley ein. Amazon kündigte an, rund 10.000 Stellen zu streichen, dann sogar 18.000 . Es folgten die Google-Muttergesellschaft Alphabet mit ungefähr 12.000 Arbeitsplätzen und Microsoft mit wiederum 10.000 Jobs , die wegfallen. Meta, die Muttergesellschaft von Facebook, baut 11.000 Stellen ab. Das klingt, als herrsche in den größten Technologiekonzernen Krisenstimmung.
Nach der Coronawelle kommt die Entlassungswelle
Die Kündigungswelle in den USA bezieht sich auf einzelne, große Tech-Firmen und ist konzentriert auf das Silicon Valley. Doch eine Krise grassiert dort keinesfalls. "Die Firmen bauen Personal ab, nachdem im Zuge des Tech-Booms wegen Corona viel eingestellt wurde" , sagt Enzo Weber, Forschungsbereichsleiter Prognosen und gesamtwirtschaftliche Analysen am Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) sowie Inhaber des Lehrstuhls für Empirische Wirtschaftsforschung an der Universität Regensburg, Golem.de.
In den IT-Firmen wurde wegen der Pandemie stark Personal aufgebaut, um etwa Anwendungen fürs Homeoffice anbieten zu können. Corona ist nun vorbei und die Situation hat sich normalisiert. Jetzt wird bei den Beschäftigten konsolidiert.
Die Rede ist von einigen Zehntausend Jobs, die wegfallen. "Für den gewaltigen US-amerikanischen Arbeitsmarkt ist das kein großes Drama" , sagt Weber. Rund 153 Millionen Erwerbstätige gibt es dort, das sind mehr als dreimal so viele wie in Deutschland. Die Entlassungen senken die Beschäftigungquote daher um nur wenige Prozentpunkte. Die Stellenstreichungen werden zwar weltweit wahrgenommen, die Konsequenzen der Kündigungen sind aber begrenzt.
Nicht alle Entlassungen sind krisenbedingt
Das gilt auch für die Ankündigung von Entlassungen bei IBM . Die haben nichts mit der Pandemie zu tun, sondern mit den Produkten. Weil die Cloudsparte langsamer wächst als geplant, wird in diesem Geschäftsbereich die Beschäftigtenzahl reduziert. In Wachstumsbereichen will der IT- und Beratungskonzern hingegen neue Leute einstellen. Wie viele, sagt IBM nicht.
SAP richtet sich konsequent auf sein Kerngeschäft aus und baut deshalb etwa 3.000 Stellen ab . Auch diese Kündigungen haben nichts mit einer Krise zu tun, sondern sind die Folge üblicher Geschäftspolitik im Wirtschaftsleben. Deshalb ist der angekündigte Stellenabbau von SAP auch nicht der Beginn einer Kündigungswelle in deutschen IT-Unternehmen ähnlich der im Silicon Valley.
"Bei uns gab es keinen ungewöhnlichen Beschäftigungsboom in IT-Firmen durch Corona, sondern eher die Fortsetzung eines kräftigen Beschäftigungstrends. Deshalb gibt es jetzt auch keinen Grund zur Konsolidierung" , sagt Weber. In Deutschland steigt die Beschäftigung von IT-Mitarbeitenden. Sie hat sich in den letzten Jahren nicht abgeschwächt und war nur einmal wegen der Pandemie unterbrochen. Eine Kündigungswelle in IT-Firmen wie zurzeit im Silicon Valley wird es bei uns deshalb nicht geben.
Auch in Deutschland wird entlassen, aber ...
Selbstverständlich wird aber auch in Deutschland entlassen und eingestellt. Das ist bei 45 Millionen Beschäftigten ganz normal, denn der Arbeitsmarkt ist dynamisch: Betriebe entstehen und werden geschlossen. Neue Geschäftsbereiche werden aufgebaut und neue Technologien eingeführt. Das alles bewegt den Arbeitsmarkt. Insgesamt aber ist er stabil.
"Die Entlassungsquote ist zurzeit so gering wie noch nie im vereinten Deutschland" , sagt Weber. Die Unternehmen seien froh, wenn sie IT-Fachkräfte hätten. Deshalb halten sie an dieser Berufsgruppe fest und entlassen sie schon gar nicht, selbst wenn ihr Geschäft mal etwas kriselt.
Um welche Berufsgruppen es sich bei den Entlassenen in Kalifornien handelt, ist überwiegend unbekannt. Diese Informationen geben die Firmen nicht preis. Mit Sicherheit werden es nicht dieselben Personen sein, die wegen der Pandemie eingestellt wurden, und wie aus den Meldungen der Unternehmen herauszulesen ist, betrifft es nicht nur Hilfskräfte, sondern auch hochqualifiziertes IT-Personal. Mit der Entlassung von hochbezahlten Fachkräften lassen sich am schnellsten Kosten senken.
Ist dieses US-Personal eine Option für den deutschen Arbeitsmarkt? Immerhin fehlen hierzulande laut Bitkom 137.000 IT-Fachkräfte .
Kommen US-Fachkräfte nach Deutschland?
Der Freistaat Bayern wittert eine Chance und hat bereits öffentlich reagiert. Auf dem Karriereportal Linkedin(öffnet im neuen Fenster) richtete sich die Staatsministerin für Digitales, Judith Gerlach, auf Englisch an die Entlassenen über dem großen Teich: "Ich möchte eine herzliche Einladung aussprechen, zu uns nach Bayern zu kommen!" Das mag für manche verwegen klingen, doch eine pure Illusion ist die praktische Idee überhaupt nicht.
Auch der VW-Konzern hofft, gute Talente unter den Entlassenen abzugreifen. Sein Konzern habe Hunderte offene Stellen in den USA, China und Europa, sagte Rainer Zugehör, Leiter der Personalabteilung der VW-Tochter Cariad, der Nachrichtenagentur Reuters(öffnet im neuen Fenster) und machte letzte Woche Schlagzeilen mit der markigen Einladung: "They fire, we hire."
Der Wissenschaftler Weber stellt unabhängig von der aktuellen Situation im Silicon Valley in der Forschung eine Zunahme der Bewegung von Beschäftigen aus Amerika nach Europa fest. "Es werden zwar nicht Massen an Top-Leuten aus den US-amerikanischen Firmen zu uns kommen, aber der eine oder andere schon" , sagt er. Da sollten wir die Kirche im Dorf lassen.
Dennoch: Früher gab es nur eine Bewegung in die eine Richtung, heute in beide. Deutschland hat gegenüber den USA nämlich auch Vorteile, die zählen und anziehen. Etwa Arbeits- und Kündigungsschutz sowie soziale Absicherung. "Nur weil es wirtschaftlich in einer Firma gerade nicht läuft, können in Deutschland nicht wahllos Mitarbeitende entlassen werden" , sagt Weber. In den USA schon, bei uns muss der Grund für eine betriebsbedingte Kündigung nachgewiesen werden . Nur dann ist sie zulässig.
Deutsch als Sprache ist kein wirkliches Problem mehr. "Viele mittelständische Betriebe bestehen nicht mehr darauf, dass ihre Beschäftigten Deutsch sprechen. Englisch geht auch" , sagt Reinhard Scharff, Personalberater und Geschäftsführer der Personalagentur Die Stellenbesetzer in Stuttgart. Die Agentur ist spezialisiert auf die Suche von technischem Fach- und Führungspersonal, allen voran Ingenieure und Informatiker.
Beworben hat sich noch kein Kandidat, weil er das Silicon Valley wegen einer Kündigung verlassen muss. Die Belegschaften dort sind kunterbunt, denn die Beschäftigten kommen aus aller Welt und manche haben ein Arbeitsvisum. Wenn sie ihren Arbeitsplatz verlieren, ist auch das Visum weg. "Ich meine, wir könnten versuchen, diese Menschen für Deutschland zu begeistern" , sagt Scharff.
Mit gar nicht mal so schlechten Chancen auf dem deutsche Arbeitsmarkt könnte die deutsche Tech-Branche am Ende sogar von den Entlassungen im Silicon Valley profitieren, statt ihrem Negativbeispiel zu folgen.



