Freiwilligkeit sieht anders aus
Aber gehen wir im folgenden Gedankenexperiment einmal davon aus, dass die derzeitige Verunsicherung in der Bevölkerung tatsächlich dazu führt, dass sich "annähernd 100 Prozent der Bevölkerung" die App laden, wie Finanzminister Scholz erwartet. Bereits solche Erwartungen lösen einen Druck auf die Bevölkerung aus, der jeder Freiwilligkeit entgegenwirkt. Zumal der Subtext ebenfalls klar vernehmbar ist: Lockerungen der Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen werden mit der Mitwirkungsbereitschaft der Bürger beim Selbsttracking in Verbindung gebracht. Wenn das mit der Freiwilligkeit nicht klappt, soll also wieder zu staatlichen Zwangsmaßnahmen übergegangen werden. Gerade in der aktuellen Lage sieht Freiwilligkeit anders aus.
Wenn zudem offensichtlich überhöhte Erwartungen ("annähernd 100 Prozent Nutzer") geschürt werden, drängt sich der Eindruck auf, hier wird eine Freiwilligkeitsdebatte geführt, deren Ende schon festzustehen scheint. "100 Prozent der Bevölkerung" verfügen keineswegs über ein App-fähiges Mobiltelefon, gerade bei den Risikogruppen fehlt es daran bei weit über einem Drittel.
Wie sollen solche Erwartungen in die Nutzungsbereitschaft je erfüllt werden? Oder denkt man bereits über Maßnahmen nach, die "Freiwilligkeit" der Teilnahme am App-Tracking zu "fördern": Wir haben die Bilder aus Wuhan, Singapur und Hongkong vor Augen, wo vor der Benutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln oder dem Supermarkteinkauf kontrolliert wurde, ob die App bei den Bürgern auch tatsächlich im Einsatz war - spätestens hier endet jede Freiwilligkeit.
Freiwillige Tracking-Apps werden scheitern
Ausschlaggebend wird allerdings ein ganz anderer Faktor sein: Die menschliche Psyche wird freiwillige Tracking-Apps scheitern lassen. Da ist zum einen der Infizierte: Er installierte die App in einer Situation, in der er sich durch ihren Einsatz einen Vorteil versprechen konnte, nämlich die Information über relevante Kontakte mit Infizierten.
Nun erhält er selbst die Nachricht, infiziert zu sein, und schlagartig ändert sich sein Kalkül: Er selbst hat von der Information anderer über seinen Infektionsstatus keinen Vorteil mehr, muss sogar zusätzliche Risiken erwägen, die vom App-Betreiber, staatlichen Stellen oder auch Kontaktpersonen ausgehen könnten, die ihn trotz zugesicherter Anonymität der App-Nutzung zu identifizieren versuchen.
Wie viele der App-Nutzer werden also diese für andere so wichtige Information solidarisch teilen? Kann die App nun wieder deinstalliert werden oder ist mit der Infektion das Recht auf Widerruf (und damit auf Freiwilligkeit) erloschen? Oder "outet" man sich sogar vielmehr selbst durch die Deinstallation der App, da man ja sonst "nichts zu verbergen" hätte?
Betrachten wir den zweiten Benutzertyp - den nicht-infizierten App-Nutzer - der eine Nachricht über einen Kontakt zu einem Erkrankten und damit die Aufforderung bekommt, sich in häusliche Quarantäne zu begeben. Die Befolgung der Quarantäneanordnung ist hierbei alleine ins Belieben des App-Nutzers gestellt, hier wirkt sich das Anonymitätsversprechen der App zum zweiten Mal aus.
"Begib Dich in Quarantäne"
Bei einer Quote von weniger als 0,1 Prozent positiv getesteter Bürger sind solche Nachrichten - "Begib dich in Quarantäne" - zunächst nur selten zu erwarten - aber was, wenn wir auf dem Weg zur Herdenimmunität 30 und mehr Prozent (ehemals) Infizierte haben? Wer geht denn dann noch freiwillig zum dritten oder vierten Mal in die häusliche Quarantäne, gerade wenn er sich nicht krank fühlt, um die Schwächen der Bluetooth-Technologie weiß und es alleine bei ihm liegt, ob er die Nachricht befolgt oder löscht?
Immer noch besser als nichts, mag man denken, eine gewisse Zahl von Bürgerinnen und Bürgern wird die App installieren und nutzen, wird die eigene Infektion ehrlich weitermelden und solche Meldungen klaglos zum Anlass nehmen, sich erneut aus dem Verkehr zu ziehen. Aber dabei sollte niemand vergessen, dass wir dieses soziale Experiment nicht zum Zeitvertreib, sondern in einer äußerst ernsten Gesundheitskrise wagen, der die Wirtschaftskrise auf dem Fuße folgt - und dass jedes Misslingen Zeit, Energie und Vertrauen kostet und weitere Menschenleben gefährdet.
So bitter es gerade für einen Datenschützer ist, dies festzustellen: Freiwillige Tracking-Apps sind weder technisch noch rechtlich noch sozial erfolgsversprechend. Wenden wir uns besser und so früh wie möglich der notwendigen Debatte zu, die uns bevorsteht: Unter welchen Bedingungen dürfen (zwangsweise?) positiv Getestete daraufhin überwacht werden, ob sie die Quarantäneauflagen einhalten? Gelingt es uns, die Überwachungsmaßnahmen verfassungskonform auf diejenigen zu beschränken, die erkennbar gegen Auflagen verstoßen oder werden solche Maßnahmen - Stichwort: elektronische Fußfessel - pauschal über alle "Gefährder" verhängt, die alleine wegen ihrer Infektion ein potentielles Risiko für ihre Mitmenschen darstellen?
An dieser Frage wird sich die Resilienz unseres freiheitlichen Rechtsstaates erweisen - nicht an der Nutzungsrate einer angeblich freiwilligen Tracking-App.
Dr. Stefan Brink ist seit 2017 Landesbeauftragter für den Datenschutz und die Informationsfreiheit in Baden-Württemberg. Clarissa Henning ist Referentin beim Landesdatenschutzbeauftragten.
Der Artikel erschien zuerst am 3. April 2020 als Gastbeitrag auf Netzpolitik.org.
Oder nutzen Sie das Golem-pur-Angebot
und lesen Golem.de
- ohne Werbung
- mit ausgeschaltetem Javascript
- mit RSS-Volltext-Feed
Es gibt nicht diese Sensorik |
Sehe ich auch so!
OK, hier sind zwei richtige Fragen: 1. Was sind die Schwachstellen der derzeit...
Genau das habe ich geschrieben, du hast es ja auch extra noch zitiert... oh Moment...
Ich hoffe sehr, dass diese App quelloffen ist (Open Source nicht unbedingt notwendig...