Im Internet über das Internet klagen
Dass die Coaching-, Selbstoptimierungs- und Ferienindustrie ausgerechnet im Internet für Digital Detox wirbt, ist eine Ironie für sich. Diejenigen, die daran verdienen, ihren Kunden beim Verzichten aufs Internet zu helfen, haben Facebook-Seiten, Websites, Online-Buchungsformulare und Kontakt-E-Mails, weil die Kunden es so erwarten und weil sie nur so im Geschäft bleiben können. So gebiert das Heilsversprechen des digitalen Verzichts neue digitale Aufmerksamkeitszwänge und offenbart immer wieder seinen Geburtsort, die Reiseindustrie. Die erhebt ausgerechnet den Verzicht zum Luxus. Das Hotel Westin Vendome in Paris verdient über 400 Euro pro Nacht damit, Gästen das Telefon wegzuschließen.
Genauso ein Widerspruch in sich ist es, dass sich viele Anhänger der Digital-Detox-Idee ausgerechnet im Internet austauschen, in Blogposts oder auf Twitter. Ein Widerspruch, den Nicole Herrmann nicht mehr hinnehmen wollte. Die Berliner Yoga-Lehrerin mit eigenem Unternehmen sagt, dass sie ihre Auszeiten von sozialen Netzwerken oder Messengern bewusst nicht mehr auf Facebook ankündigt. Sie lese ihre Mails, antworte aber manchmal erst nach Tagen.
Zurück in die 80er
Verpasst sie dadurch nicht wichtige geschäftliche Gelegenheiten? "Nein, noch nie", sagt Herrmann. "Ich glaube, es ist okay, auch erst nach ein paar Tagen zu antworten, so war das ja früher auch." Für sie hat digitale Abstinenz nur Vorteile: "Nicht in den Netzwerken zu sein, ist toll. Es ist so ein 80er-Jahre-Gefühl: Mehr Zeit für die Dinge zu haben, die gerade im Moment vor der eigenen Nase passieren, mag ich. Es tut gut und gibt einem ein bisschen Freiheit zurück."
Was Herrmann an Freiheit in ihrer Berliner Wohnung findet, dafür reisen auch dieses Jahr wieder Hunderte Camp-Grounded-Teilnehmer in den US-amerikanischen Wald. Levi Felix hatte die Idee zu den Offline-Ferienreisen, nachdem er 2008 aufgrund großer Überarbeitung in einem Startup massive gesundheitliche Probleme bekam. In dieser Hinsicht ist Digital Detox bis heute eine Flucht vor den Anforderungen der modernen Arbeitswelt. Wer sich Federschmuck ins Haar steckt und Regenbogen nennt oder das Handy für 24 Stunden nicht ansieht, flieht in eine Zeit, in der er nicht verfügbar sein musste. Das 80er-Jahre-Gefühl, von dem Herrmann spricht, ist für die Digital-Detox-Freunde die Rückkehr in die Kindheit. Allerdings in eine Kindheit ohne Whatsapp-Hausaufgabengruppen oder Cartoon-Playlists auf Youtube.
In welcher Form auch immer Digital Detox passiert, seine Befürworter preisen die soziale Folge, sich aus dem Netz auszuklinken: "In Situationen, die man nicht digitalisieren kann, beweist sich Mitmenschlichkeit", sagt der Mediziner und nennt beispielhaft die Pflege von Kranken oder die Begleitung von Sterbenden. Dennoch bleibt festzuhalten: Digital Detox ist nicht das Patentrezept zum Lebensglück. Nicht allen bringt es etwas, sich selbst vom Netz zu nehmen und nicht alle brauchen es.
"Es gibt auch Menschen, die beim Essen nie eine Diät brauchen", sagt te Wildt. Am sinnvollsten ist es wahrscheinlich, einfach selbst auszutesten, was der bewusste Verzicht auf digitale Technologie bringt. Dafür muss niemand nach Mendocino reisen. Ein Wochenende ohne Computer oder Smartphone dürfte genügen.
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Manche leben komplett offline |
Selbst durchs Lesen dieses Kommentars vergehen wieder 20 Sekunden unserer Lebenszeit. Lach.
ich bin seit einiger Zeit auch Offline und finde es einfach nur gut. Das lag auch...
Hm, hab ich bei der Bundeswehr auch alles gehabt und finde trotzdem nicht, dass der...
Das liegt bestimmt überhaupt nicht daran, dass der Markt, die Population und die...