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Die Datenschutzmärchen - Folge 1: Der Wolf bleibt draußen

Lassen sich komplexe Themen wie Datenschutz schon kleinen Kindern vermitteln? Und ob! Und zwar, liebe Eltern, mit überraschenden Verbündeten.
/ R. Zehl
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Der Wolf beim Krämer (Bild: Leutemann or Offterdinger, photo by Harke, Public domain, via Wikimedia Commons)
Der Wolf beim Krämer Bild: Leutemann or Offterdinger, photo by Harke, Public domain, via Wikimedia Commons

Eltern wollen ihre Kinder schützen – klar. Aber wir können sie auch nicht in Watte packen, sie sollen ja ins Leben hineinwachsen. Wie lehren wir sie Vorsicht, Wachsamkeit und Selbstschutz, ohne Angst zum Grundton zu machen?

Früher Abend, Zubettgehzeit, Zeit für eine Geschichte. Das Kind in meinem Arm gekuschelt, fällt meine Wahl auf ein klassisches Märchen. Die gemeinsame Zeit, die Chance, einen Blick in die Gedankenwelt meines Kindes zu erhaschen, und die schlichte Botschaft "Überlege gut, wem Du die Tür aufmachst!" sind Grund genug – aber Kinder sind immer für eine Überraschung gut und so entspann sich folgender Dialog.

Der Wolf und die sieben Geißlein

Es war einmal eine Geiß, die hatte sieben junge Geißlein, und hatte sie lieb, wie eine Mutter ihre Kinder nur lieb haben kann. Eines Tages mußte sie in den Wald gehen und Futter holen. Da rief sie alle herbei und sprach "Liebe Kinder, gebt gut acht: ich muß in den Wald gehen. Seid auf der Hut vor dem Wolf! Wenn er ins Haus kommt, so frißt er euch mit Haut und Haar. Er verstellt sich oft, aber an seiner rauhen Stimme und an seinen schwarzen Füßen könnt ihr ihn erkennen."

Die Geißlein sagten "Liebe Mutter, wir werden gut achtgeben. Sei ohne Sorge." Da machte sich die Geiß auf den Weg.

Es dauerte nicht lange, da klopfte es an der Haustüre und jemand rief "Macht auf, ihr lieben Kinderlein, eure Mutter ist da und hat jedem von euch etwas mitgebracht."

Aber die Geißlein hörten an der rauen Stimme, daß es der Wolf war. Sie riefen "Wir machen dir nicht auf, denn du bist unsere Mutter nicht. Die hat eine feine und liebliche Stimme. Deine Stimme aber ist rau: Du bist der Wolf!"

An dieser Stelle erhob sich zorniger Protest und heftige Entrüstung: "Nein! – Nein, das sollen die dem Wolf nicht sagen! Nein – das ist doch dumm!" Zustimmung meinerseits.

Da ging der Wolf zum Krämer und kaufte sich ein großes Stück Kreide: Die fraß er und machte seine Stimme fein. Dann kam er zurück, klopfte an die Haustüre und rief mit heller Stimme: "Macht auf, ihr lieben Kinderlein, eure Mutter ist da und hat jedem von euch etwas mitgebracht."

Aber der Wolf hatte seine schwarze Pfote in das Fenster gelegt. Das sahen die Kinder und riefen: "Wir machen nicht auf, unsere Mutter hat keinen schwarzen Fuß wie du: Du bist der Wolf."

Mein Kind, eng zusammengerollt, die Fäuste vor dem Mund, hauchte ein verzweifeltes, banges "Nein, nein – die dürfen ihm das doch nicht verraten ..." Das gleiche ungläubige Staunen und Grauen, das auch erwachsene Experten kennen, wenn angesichts der dräuenden Katastrophe ihr Rat ignoriert wird ...

Kreide gefressen und Mehl auf der Pfote

Da lief der Wolf zu einem Bäcker und sprach: "Ich habe mich am Fuß gestoßen, streich mir kühlen Teig darüber." Und als ihm der Bäcker die Pfote bestrichen hatte, sprach er: "Streu mir weißes Mehl auf meine Pfote." Dem Bäcker schwante Böses und er weigerte sich. Aber der Wolf sprach: "Wenn du es nicht tust, so fresse ich dich." Da fürchtete sich der Bäcker und streute Mehl auf die Pfote.

Nun ging der Wolf zum dritten Mal zu der Haustüre, klopfte an und sprach: "Macht auf, ihr lieben Kinderlein, eure Mutter ist da und hat jedem von euch etwas mitgebracht."

Die Geißlein riefen: "Zeig uns erst deine Pfote." Da legte er die weiße Pfote ins Fenster und so glaubten sie, es wäre ihre Mutter und machten die Türe auf. Herein kam aber der Wolf.

Sie erschraken und wollten sich verstecken. Das erste sprang unter den Tisch, das zweite ins Bett, das dritte in den Ofen, das vierte in die Küche, das fünfte in den Schrank, das sechste unter die Waschschüssel, das siebente in die Standuhr. Aber der Wolf fand sie und fraß sie alle, alle auf – nur das jüngste, in der Standuhr, das fand er nicht.

Interessanterweise entspannte sich hier mein Kind: Das Erlebnis der korrekten Vorhersage – und damit der eigenen Kompetenz – war beruhigend. Und sicherlich auch, dass das Jüngste, also die eigene Identifikationsfigur, verschont wurde.

Dann ging er hinaus auf die grüne Wiese und legte sich unter einen Baum schlafen.

Kurz danach kam die Geiß wieder heim. Ach, was musste sie sehen! Die Haustüre sperrangelweit offen; Tisch, Stühle und Bänke umgeworfen; die Waschschüssel in Scherben; Decke und Kissen aus dem Bett gerissen. Sie suchte ihre Kinder, aber nirgends waren sie zu finden. Sie rief sie nacheinander mit Namen, aber niemand antwortete. Endlich kam sie an das jüngste, da rief eine feine Stimme: "Liebe Mutter, ich stecke im Uhrkasten." Sie holte es heraus und es erzählte ihr alles. Du kannst Dir denken, wie sie geweint hat.

Empathisches Nicken ...

Endlich ging sie in ihrem Jammer hinaus und das jüngste Geißlein lief mit. Als sie auf die Wiese kamen, lag da der Wolf unter dem Baum und schnarchte, dass die Äste bebten. Die Geiß betrachtete ihn von allen Seiten und sah, dass in seinem prallen Bauch sich etwas regte und zappelte.

"Ach" dachte sie, "sollten meine armen Kinder noch am Leben sein?"

Noch ein Einwand: "Aber die Geißlein bekommen im Wolf doch gar keine Luft!" Stimmt! "Aber manches ist in der Märchenwelt eben anders als in der wirklichen." Kurzes Grübeln hinter der kleinen Stirn, dann Entspannung: "Die Tiere hier benehmen sich ja eigentlich auch wie Menschen."

Sie schickte das Jüngste nach Hause, um Schere, Nadel und Zwirn zu holen, schnitt dem Ungetüm den Wanst auf. Schnell streckte ein Geißlein den Kopf heraus und dann sprangen nacheinander alle sechse heraus. Sie waren noch alle am Leben und unversehrt, denn der Wolf hatte sie in seiner Gier ganz verschlungen.

Ende gut, alles gut?

Das war eine Freude! Mutter Geiß aber sprach: "Geht und sucht schwere Wackersteine." Damit füllten sie seinen Bauch. Die Geiß nähte den Bauch so schnell und geschickt wieder zu, dass der Wolf nichts merkte und sich nicht einmal regte. Als der Wolf endlich ausgeschlafen hatte, war er durstig und wollte zum Bach, um zu trinken.

Beim Gehen rumpelten aber die Steine in seinem Bauch und er rief: "Ei, was rumpelt und pumpelt denn in meinem Bauch herum? Ich dachte, es wären sechs Geißlein, doch es fühlt sich an wie lauter Wackersteine." Als er an den Bach kam und sich über das Wasser beugte, um zu trinken, zogen ihn die schweren Steine hinein und er musste jämmerlich ersaufen. Als die sieben Geißlein das sahen, war die Freude groß.

Auch beim achten Geißlein, das jetzt ins Bett und unter die Decke schlüpfte. Nach den ganzen emotionalen Anstrengungen und nachdem die Geschichte doch noch glimpflich und gut ausgegangen war, setzte zufriedene Entspannung ein und schnell auch der Schlaf. (Alptraumfrei!)

Der Ehrliche hat nichts zu verbergen! Ehrlich?

Die Ehrlichen lehren ihre Kinder seit ungezählten Generationen etwas ganz anderes – aus gutem Grund! Denn der Ehrliche hat viel zu verbergen vor all den Unehrlichen, die uns gerne mit fein gemachter Stimme ihre unbedingte Vertrauenswürdigkeit versichern, und natürlich: "Der Ehrliche hat nichts zu verbergen." Daran, liebe Kinder, erkennt ihr die Wölfe und dummen Geißlein.

Natürlich warnen wir unsere Kinder nicht wirklich vor Wölfen. Selbst Dreijährige können das erkennen und auch: Das unbedachte Ausplappern von Informationen ist Selbstgefährdung. Datensparsamkeit – also die Kontrolle dessen, was weitergegeben wird – ist Selbstschutz.

Data Highway to Hell

Aber wovor warnen wir eigentlich? Altbekannt und vergleichsweise harmlos: Social-Media-Posts über hochwertige Anschaffungen oder Urlaube werden von Einbrechern ausgewertet. Schon 2011 nutzten vier von fünf Einbrechern die Datenfreigebigkeit(öffnet im neuen Fenster) ihrer zukünftigen Opfer als Planungsgrundlage(öffnet im neuen Fenster) . Was die Polizei NRW übrigens zu einem putzigen Bild verarbeitete.

Das Lachen bleibt aber im Halse stecken, wenn man die wesentlich weniger bekannten, dafür aber ernsteren und teils auch älteren Vorfälle kennt: etwa den Fall Ashleigh Hall 2009 in Großbritannien(öffnet im neuen Fenster) . Auch die Entführer und Mörder im Fall Anneli nutzten Informationen aus dem Facebook-Profil des Opfers(öffnet im neuen Fenster) .

Lieferdienste sind en vogue – auch beim modernen Wolf. Sie ersparen die Mühe, Nahrung selbst ins Haus schaffen zu müssen. Die folgende reale Begebenheit ist definitiv nicht kindertauglich, sondern nur für junge Erwachsene (und Jugendliche, die das noch werden wollen).

Ein Geißlein verabredet sich per einschlägiger Dating-App. Die Transaktion verläuft auch nett und befriedigend. Der Wolf behindert aber den Aufbruch mit der Entwendung von Kleidungsstücken und verschwindet in die Küche, weil er das Geißlein noch mit einem Nachtisch überraschen will.

Das Geißlein beschleicht ein sehr ungutes Gefühl und es ruft die Polizei an, welche Gefahr in Verzug sieht, eine Streife schickt und Kontakt hält und den Fluchtplan abspricht. Die Streife klingelt und in dem Moment, wo die Wohnungstür aufgeschlossen und geöffnet wird, erhält das Geißlein das Signal zur Flucht. Es schafft es glücklich aus der Wohnung – auf dem Weg sieht es allerdings, dass die Wohnküche vor dem Schlafzimmer mit Folien ausgelegt wurde und ein spektakuläres Messersortiment bereitliegt. Ein Sachverhalt, den der Wolf nonchalant damit erklärte, dass er Melonen aufschneiden wollte und das immer so eine Sauerei gebe.

Leider kein Märchen – daher auch keine Wackersteine für den Wolf, der auch nicht belangt werden kann -, sondern der sehr erschütterte Bericht eines Kollegen, zu dessen Familie dieses Geißlein gehörte.

Was ganz tief unten im finsteren Bauch der Bestie passieren kann, ist schrecklich. Auch bei Märchen kann es im Kopfkino wild zugehen, wohl deswegen bringen sie die Erzählung immer zu einem sauberen, klaren und glimpflichen Abschluss.

"Gefressen werden" ist dabei eine gute, kindertaugliche Metapher. Selbst den Kleinsten ist klar: "Gefressen werden" ist blöd und unbedingt vermeidungswürdig – sonst ist man ja nicht mehr da, und das kann einfach nicht gut sein: Wer will schon als Töpfchen-Inhalt enden?

Mit dem Dreirad auf die Datenautobahn?

Schicken wir Kinder mit dem Dreirad auf die Datenautobahn, können sie dort die geschwätzigen, dummen Geißlein sein, die verraten, wie man am leichtesten an sie rankommt: ein kostenloser Geißlein-Bestellkatalog und -Lieferservice für den modernen Wolf – Kreide, Teig und Mehl inklusive. Und das wird regelmäßig nicht so glimpflich ausgehen wie im Märchen.

Kein vernünftiger Mensch würde Kinder ohne Vorbereitung mit dem Dreirad oder Fahrrad auf die Straße schicken – geschweige denn auf die Autobahn.

Märchen – Geschichten zum selbst Ausmalen

Genau so, wie wir aus guten Gründen mit der Verkehrserziehung schon auf dem Weg in den Kindergarten (oder früher) beginnen, können wir das für den Cyberspace. Märchen sind dazu ein Weg. Denn die Bedrohungen dort sind ja nicht neu – der Mensch als des Menschen Wolf ist ein uraltes Problem.

Märchen erzählen archetypische Situationen (weltweit in vielen Kulturen in unterschiedlichen Geschichten übrigens die gleichen). Gerade weil sie so universell und vage sind, können sie immer wieder neu gelesen werden und bieten Kindern wie Eltern Projektionsfläche, sich und ihre aktuellen Themen darin wiederzufinden und ins Gespräch zu kommen.

Die oben geschilderte Erzählsituation ist echt. Natürlich wird nicht jedes Kind die gleichen Ideen und Reaktionen einbringen. Sicherlich war bei meinem Kind der Umgang mit echten Tieren hilfreich, um zu erkennen, dass die Geißlein und Wölfe in Wirklichkeit Menschen sind.

Auch die Berufe der Eltern haben schon erstaunlich durchgefärbt. Mit anderen Kindern wird es anders laufen, aber höchstwahrscheinlich wird sich ein Dialog daraus entspinnen. Oft reicht eine einfache Frage: "Wie findest du das Verhalten der Geißlein?"

Der Text wurde unter unter Pseudonym veröffentlicht, damit nicht die Person im Vordergrund steht, sondern der Textinhalt; der Name ist der Redaktion bekannt.

Um eine pädagogische Nutzung zu ermöglichen – insbesondere die Anpassung an die jeweiligen Zielgruppe – wird der Text unter die Lizenz CC BY-NC-SA 4.0(öffnet im neuen Fenster) gestellt. Wir bitten um eine kurze Erwähnung, dass der Text zuerst bei Golem.de erschienen ist.


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