Deutschlandstart mit Akkuwechsel: Nios Angriff auf die elektrische Oberklasse

Berlin ist bislang nicht als Hauptstadt der Autoindustrie bekannt. Das ignorieren William Li und Lihong Qin. Die beiden Nio-Gründer sitzen mit dem Rücken zur Gedächtniskirche auf dem Breitscheidplatz und verkünden den Deutschland-Start. Im Berliner Nio House ist bislang nur das Erdgeschoss bezugsfertig, die anderen Stockwerke sind noch Baustellen.
"Flexibilität ist das neue Premium" , sagt William Li, Gründer und CEO des Unternehmens im Gespräch mit Golem.de. Er sagt den Satz, den ihm seine Marketingabteilung vorgegeben hat, auf Chinesisch. Eine Übersetzerin wiederholt es auf Englisch. Am Abend im Tempodrom wird Li seine Rede auf Englisch halten. Erstmals - dem CEO ist für den Auftakt wichtig, dass die Gäste aus Deutschland, Dänemark, Schweden und den Niederlanden ihn verstehen. Nach Norwegen sind dies die nächsten Absatzmärkte für die E-Autos.
Die Fahrzeuge kann man per CCS-Stecker (DC) oder Typ-2-Kabel (AC) laden. Oder man fährt zu einer Wechselstation, an der automatisch die leere Batterie entnommen und durch eine zu 90 Prozent geladene Batterie getauscht wird. Zum Start gibt es in Deutschland drei Standorte: Den Sortimo Innovationspark im schwäbischen Zusmarshausen, die Motorworld in Berlin-Spandau und den Seed & Greet Ladepark im nordrhein-westfälischen Hilden.
Laden mit Stecker oder Akku-Wechsel
Zur angesprochenen Flexibilität gehört auch die Akkukapazität. Die Standardgröße fasst 75 kWh. Wer für längere Fahrten mehr Reichweite benötigt, reserviert per App beim Tausch einen 100-kWh-Akku. Im kommenden Jahr bringt Nio einen 150-kWh-Akku auf den Markt. Nio verkauft seine E-Autos in Deutschland nicht, sondern bietet nur Abos an. Der kompakte ET 5 startet bei 999 Euro pro Monat, bei einer Laufzeit von 36 Monaten.
Das SUV EL 7 kostet 1.299 Euro und die Limousine ET 7 1.199 Euro im Abo. Die festen Raten gelten für Laufzeiten zwischen 12 und 60 Monaten. Daneben wird eine flexible Rate angeboten (ab 1.549 Euro für den ET 7), die sich mit jedem Monat verringert. Angaben wie viele Batteriewechsel inklusive sind und was eine Kilowattstunde Energie kostet, teilte Nio noch nicht mit. Während des Testbetriebs der drei Stationen in Deutschland bleiben die Batteriewechsel kostenlos.
Limousine, SUV und Kompakt-Modell
Die Limousine ET 7 kann man ab sofort bestellen. Den EL 7 ab Januar 2023 und den kleineren ET 5, der dem Model 3 von Tesla ähnelt, ab März 2023. Audi hatte Nio bereits im Vorfeld wegen der Namensähnlichkeit von S8 und ES 8 verklagt. Der ES 8 wird in Deutschland gar nicht angeboten, doch vorsichtshalber macht Nio aus dem SUV ES 7 den EL 7. "Das E steht bei Nio für elektrisch, Erfahrung als auch Emotion. Das L für Lifestyle, das S für SUV und das T für Touring" , erläutert Chef-Designer Kris Tomasson. Bei den Gesprächen mit dem Nio-Management wird deutlich, wie international der Autohersteller aufgestellt ist.







Natürlich sind die beiden Gründer Chinesen und auch die Fertigung hat ihren Sitz in Hefei. Doch der Amerikaner Kris Tomasson war einer der ersten Mitarbeiter. Der Designer lebt in München - ein Grund, warum Nios Design-Center seit 2015 in der bayrischen Landeshauptstadt ist. Chefingenieur Danilo Teobaldi ist Italiener. Die Belegschaft setzt sich aus 40 Nationalitäten zusammen. In San José entwickelt das Unternehmen Software und in Berlin wurde im Juli ein Forschungszentrum eingerichtet.
William Li hat ehrgeizige Pläne.
Wettbewerb mit Mercedes
Bis 2030 will er mit Nio zu den fünf größten Autoherstellern der Welt gehören und bereits in drei Jahren mit seinen E-Autos in 25 Ländern vertreten sein. Im Heimatmarkt hat das Unternehmen bislang eine Viertel Million Autos auf den Straßen. In Deutschland wildert Li direkt in der Oberklasse.
Der ET 7 kann sich mit der EQS-Limousine von Mercedes-Benz messen. Der 5,10 Meter lange ET 7 ist mit einem cW-Wert von 0,208 ähnlich aerodynamisch. Auch die Leistung des Allradantriebs (480 kW), die Reichweite bis zu 580 km (100 kWh Akku) sowie die Innenausstattung kommen nah an das Flaggschiff der Stuttgarter heran. Auch Ausstattungsmerkmale wie Beduftung fehlen im Nio ET 7 nicht. Dafür startet die chinesische Limousine bei knapp 70.000 Euro, der EQS bei knapp 110.000 Euro. Gut, einen Kauf bietet Nio anfänglich nicht an.
Nomi weckt Emotionen
Im Innenraum fühlt sich der Fahrer in der Oberklasse. Die helle Innenausstattung wird ergänzt durch Karuun. Das helle Holz besteht aus Rattan. Es ist nachhaltiger, aber genauso stabil und leicht wie Kunststoff. Das Glasdach sorgt für viel Licht im Innenraum. Nomi aktiviert über Sprachbefehle die Massagefunktion in den Sitzen.
Sprachassistenten bieten viele Hersteller. Bei Nio gibt sie durch ihre Augen Rückmeldung und zeigt Emotionen. Nomi steckt in einer beweglichen Kugel auf dem Armaturenbrett. Sie schaut einen an, wenn sie antwortet. Lässt man sie in Ruhe, schläft sie und wenn Musik läuft, greift sie zu einem Instrument. Das ist verspielt, gewinnt aber direkt die Herzen der Mitfahrer. Nomi kann auch ein Foto der Passagiere schießen. Wem das zu viel ist, der bekommt das Auto mit einer leuchtenden Fläche statt Kugel und rundem Display.
Level 3 wäre möglich
Technisch basieren die drei Modelle auf der zweiten Generation der Nio-Plattform (NT2). Oberhalb der Frontscheibe fallen direkt die beiden Kameras und der Lidar-Sensor im Dach ins Auge. Watchtower nennt Nio das. Die E-Autos verfügen über 33 Sensoren (11 Kameras, 5 Radar, 12 Ultraschall- und 1 Lidar-Sensor).
Der Adam genannte Computer verarbeitet die Signale mit vier Nvidia Drive Orin X Chips. Das System verarbeitet 1.016 Tera-Operationen (Tops) pro Sekunde. Damit wären die E-Autos rein technisch für Level 3 des automatisierten Fahrens vorbereitet. Doch Nio schaltet zunächst nur Funktionen von Level 2 frei (Abstandstempomat, Spurhalter, Überholassistent, Einparkhilfe). Diese Funktionen sowie das gesamte Softwarepaket, das Nio nach dem Feigenbaum Banyan getauft hat, ist über eine Datenverbindung Upgrade-fähig.
Batteriewechsel innerhalb von fünf Minuten
Immer wieder verweisen die Manager in den Gesprächen auf den Dreiklang: aufladbar, wechselbar, Upgrade-fähig (chargeable, swopable, upgradable). Die Möglichkeit eines Batteriewechsels macht die Fahrzeuge einmalig. Das bietet sonst niemand auf dem Markt. Nio absolvierte inzwischen 13 Millionen Batteriewechsel. Es liegen viele Daten über den Zustand der Batterien vor.
Auch die Station kommt in der zweiten Generation nach Deutschland. Sie benötigt eine Fläche von 60 Quadratmetern. Im Lager haben 13 Akkus Platz. In Berlin liefert der Netzanschluss 550 kW. Damit werden die Akkus über Nacht schonend mit 20 bis 40 kW Gleichstrom geladen. Der Fahrer parkt vor der Station in einem markierten Parkplatz. Nach dem Start des Wechselvorgangs über den Bildschirm läuft alles automatisch ab.
Das Auto fährt in die Station und wird angehoben. Acht Schrauben im Rahmen und zwei in der Mitte werden gelöst. Der leere Akku verschwindet im Lager, der neue Akku wird eingesetzt und verschraubt. Nach rund fünf Minuten erwachen Nomi und die Displays wieder zum Leben und man kann weiterfahren. Eine Station kann laut Nio bis zu 312 Wechsel täglich vollziehen, dann erhalten aber nicht alle Nutzer einen vollgeladenen Akku. Die am stärksten frequentiere Station in China vollzieht pro Tag 150 Wechsel.
Kostenfaktor Batteriewechsel
Im Laufe des Jahres werden in den genannten europäischen Ländern 20 Stationen den Betrieb aufnehmen. Bis 2030 sollen außerhalb Chinas, wobei hier auch die USA mitzählen, 1.000 Stationen aktiv sein. Eine Station kostet inklusive Akkus rund 400.000 Euro. Das bedeutet einen Kapitalaufwand von 400 Millionen Euro. Es bleibt abzuwarten, ob das börsennotierte Unternehmen dieses Kapital aufbringen kann.
"Wir sind offen für Partner" , sagt Li im Gespräch. Nio bietet sein Wechselsystem anderen Autohersteller an. Dass sich etablierte europäische Hersteller hierauf einlassen, ist höchst unwahrscheinlich. Neben dem Akku-Format müssten sich die Partner auch beim Akkumanagement, den Hoch- und Niedrigvoltanschlüssen sowie dem Anschluss für die Flüssigkeitskühlung den Vorgaben von Nio anpassen. Das Fahrwerk benötigt einen Rahmen, um auch bei entnommener Batterie noch stabil zu bleiben.
In Europa liefert Nio seine E-Autos auf Wunsch mit Anhängerkupplungen aus. Das ist eine Erfahrung aus Norwegen. Und beim ET 5 lässt sich die Rückbank umklappen, eine Funktion, die in China keineswegs üblich ist.



