Computerlinguistin Margaret Masterman: Ihrer Zeit mindestens 20 Jahre voraus

Als Margaret Masterman am 4. Mai 1910 in London geboren wurde, gab es natürlich noch keine Computer. Henry Babbage war zu diesem Zeitpunkt aber immerhin kurz davor, der Analytical Engine seines Vaters das Rechnen beizubringen, Charles Krum reichte in den USA ein Patent ein, das zur Entwicklung von Teleprintern beitragen sollte und Nathaniel Baldwin erfand Audio-Kopfhörer.
Trotzdem wurde aus Masterman eine der ersten Forscherinnen, die an maschineller Übersetzung arbeiteten. In den 1950er und 1960er Jahren entwickelte sie innovative Ansätze, die auf semantischen statt rein statistischen Methoden beruhten - ein Konzept, das seiner Zeit weit voraus war.
In dieser Zeit - 1955 - gründete Masterman auch das Cambridge Language Research Unit (CLRU), eines der ersten Institute, das sich explizit mit maschineller Sprachverarbeitung beschäftigte. Unter ihrer Leitung wurde das CLRU ein interdisziplinäres Zentrum, das Linguistik, Philosophie, Informatik und Kybernetik verband.
Insbesondere schlug sie die Verwendung von Thesauri (vor allem Roget's Thesaurus) zur Verarbeitung von Wortbedeutungen in maschinellen Übersetzungsprogrammen vor. Diese Idee war wegweisend und beeinflusste spätere Entwicklungen in der semantischen Verarbeitung natürlicher Sprache. In den 1960er Jahren entwickelte sie zudem Vorstellungen, die den heutigen semantischen Netzwerken und Ontologien ähneln.
Was alles auf Mastermans Ideen zurückgeht
Mastermans Thesaurus-basierte Ideen finden heute noch in dem seit 1985 an der Princeton University entwickelten lexikalisch semantischen Netz der englischen Sprache Wordnet(öffnet im neuen Fenster) Verwendung und werden in leicht abgewandelter Form als Vektorräume und semantische Beziehungen in den Large Language Models (LLMs) wie zum Beispiel GPT und Bert genutzt, um Sprachverständnis zu erzeugen.
Maschinelle Übersetzung wie DeepL oder Google Translate nutzen kontextbasierte, semantisch fundierte Modelle und nicht mehr rein syntaktische oder statistische Methoden - DeepL arbeitet mit neuronalen Netzen, die Bedeutungsräume durchdringen, eine Vision, die Masterman bereits vor 70 Jahren skizzierte.
Weitere Beispiele, die auf Mastermans Forschung zurückgehen, sind Googles Knowledge Graph (Bedeutung durch Konzeptnetzwerke), IBMs Watson (Bedeutungsstrukturierung in spezialisierten Domänen) und das Semantic Web (maschinenlesbare Bedeutung in Webinhalten). Genauso wichtig war aber, dass Masterman die Forschungsbereiche Linguistik, Philosophie, Informatik und Kybernetik zu einem interdisziplinären Ansatz bewegen konnte - etwas das heute weit verbreiteter Standard in der KI-Forschung ist und auf das KI-Ethik, Explainable AI und Human-Centered AI aufbauen.
Mastermans Weg zur Computerlinguistin
Die Familie Masterman war an Technik mutmaßlich kaum interessiert. Margarets Vater Charles(öffnet im neuen Fenster) arbeitete gemeinsam mit anderen Politikern der damals radikalen Liberal Party an der Entwicklung sozialer Projekte, dazu war er als Journalist und Autor tätig. Von 1906 bis 1914 saß er darüber hinaus als Abgeordneter der Liberal Party im britischen Unterhaus.
Ihre Mutter Lucy Blanche, geborene Lyttelton, war am 19. Juli 1884 als erstes Kind eines Generals und dessen Frau in Gibraltar geboren worden. In den 1900er Jahren lernte sie bei einer Veranstaltung der sozialistischen Fabian Society den elf Jahre älteren Charles Masterman kennen, den sie im Juli 1908 heiratete.
Beide verbanden die Leidenschaft für Politik und die Liebe zum Wort, Lucy(öffnet im neuen Fenster) veröffentlichte mehrere Lyrikbände und Prosawerke und arbeitete als Literaturredakteurin bei der Zeitschrift The Outlook.
1914 wurde Charles Masterman zum Chef des neu gegründeten Kriegspropagandabüros Wellington House berufen, für das auch namhafte britische Schriftsteller wie Arthur Conan Doyle und Rudyard Kipling arbeiteten. Mit dem Ende des Ersten Weltkriegs war auch Charles Mastermans Tätigkeit in der Kriegspropaganda beendet.
Obwohl die Familie heute gern als privilegiert beschrieben wird, war das Geld manchmal knapp, zum Beispiel Anfang der 1920er Jahre, als Charles auf der Isle of Wight weilte, um sich in Ruhe auf seine schriftstellerischen Ambitionen zu konzentrieren. Das geht aus den in der Universität Birmingham verwahrten Masterman Family Papers (PDF)(öffnet im neuen Fenster) hervor, die Briefe beinhalten, die sich Charles und Lucy schrieben, und in denen er von seiner Frau immer wieder ermutigt wird, trotz nachlassender Gesundheit weiterzumachen - und trotz unregelmäßiger Honorarzahlungen: Im September 1921 teilte ihm Lucy mit, dass sie zur Not halt einige Möbelstücke verkaufen müssten (PDF)(öffnet im neuen Fenster) . Versuche, wieder ins Unterhaus gewählt zu werden, scheiterten, selbst Wahlen in für sicher gehaltenen Wahlbezirken verlor er.
1927 starb Charles Masterman im Alter von 54 Jahren. Alkohol- und Medikamentenmissbrauch hatten mutmaßlich zu seinem frühen Tod beigetragen. Der Politiker und Schriftsteller John Buchan beschrieb ihn in seinen 1940 posthum erschienenen Memoiren Memory Hold-the-Door(öffnet im neuen Fenster) als "einen der brillantesten, missverstandensten und mit einem tragischen Schicksal geschlagensten Männer unserer Zeit."
Studentin von Wittgenstein
Obwohl Masterman lediglich 452 Pfund, nach heutigem Wert rund 5.500 Euro, hinterließ, erhielten seine drei Kinder Margaret, Neville und Dorothy gute Ausbildungen. Margaret besuchte das Newnham College in Cambridge, wo sie moderne Sprachen und Philosophie studierte.
Sie gehörte zu den sechs Studenten, die von 1933 bis 1935 damit betraut wurden, Notizen über die Vorlesungen von Ludwig Wittgenstein anzufertigen, die als Blue and Brown Books zunächst inoffiziell kursierten und 1958 offiziell veröffentlicht wurden.
Gründung des CLRU inmitten asiatischer Kunst
Margaret Masterman war seit 1932 mit dem Philosophen Richard Bevan Braithwaite verheiratet, 1937 kam Sohn Lewis Charles zur Welt, 1940 wurde Tochter Catherine Lucy geboren. Die Karriere aufzugeben, kam für sie aber nicht in Frage, vielmehr gründete sie 1954 das Cambridge Language Research Unit (CLRU).
Hervorgegangen aus losen Gesprächskreisen, an denen sich Vertreter und Vertreterinnen unterschiedlicher Fachrichtungen beteiligten, sollte das CLRU die Möglichkeiten maschineller Übersetzungen erforschen. Gemeinsam mit Richard Hook Richens, einem Botaniker, der sich auf die Erforschung von Ulmen-Bäumen und die Kritik der Methodik sowjetischer wissenschaftlicher Veröffentlichungen spezialisiert hatte, gelang es Masterman, 250 Pfund Spenden für die Anmietung eines bereits leicht baufälligen Gebäudes zu sammeln.
Das dem pensionierten General und späteren Dozenten für indische Sprachen an der Universität von Cambridge, Walter Sibbald Addie, gehörende Haus namens Adie's Museum, dessen Wände buddhistische Skulpturen zierten, war ursprünglich ein Ausstellungsort für fernöstliche Kunst.
Adie's Museum wurde schließlich abgerissen, heute finden sich im Internet keine Bilder des für die Computerlinguistik so wichtigen Ortes mehr.
Lange vergessene Computerpionierin und Romanautorin
Margaret Mastermans Leistungen waren lange vergessen, erst mit dem Aufkommen von KI wurden ihre Verdienste angemessen gewürdigt. Dass sie als junge Studentin ihren ersten Roman verfasst hatte, ist aber bis heute nicht in ihrem Wikipedia-Eintrag vermerkt.
In einem Interview mit dem Onlineliteraturmagazin Strange Horizons erzählte die Krimiautorin Joan Aiken 2001 von einem Buch, das sie gern lesen würde, das aber seit langem vergriffen sei.
Dabei handelte es sich um den in einer Mädchenschule spielenden Roman Gentleman's Daughters von Margaret Masterman, der im Jahr 1931 erschienen war. Aiken bat die Leser um Hilfe: "Wenn jemand ein Exemplar hat, zahle ich einen angemessenen Preis dafür."
Mastermans Erstlingswerk war kein großer Erfolg, was daran gelegen haben könnte, dass das Buch vom Verlag als Erwachsenenliteratur eingeordnet wurde, wie es in einer Rezension aus dem Jahr 2023 heißt(öffnet im neuen Fenster) : "Möglicherweise hatte Margaret Mastermans Verleger einfach das Gefühl, dass es für Schulmädchen schwer zu verkaufen sein würde - eine ruhige Geschichte über ein Mädchen, das lernt, selbst zu denken? Keine Spione? Epidemien? Nicht einmal brennende Gebäude? Also für Erwachsene!"
Auch die beiden folgenden Bücher - The Grandmother, eine humorvolle Geschichte über eine Familie, die von der Oma tyrannisiert wird, sowie der 1938 erschienene Kriminalroman Death of a Friend - wurden keine Bestseller.
Erinnerungen von Weggefährten an eine niemals langweilige Frau
Margaret Masterman starb am 1. April 1986. Bill Williams, damals Direktor des CLRU, beschrieb sie in seinem Nachruf als Frau mit vielfältigen Interessen, die sie "mit Elan, Begeisterung und Intensität verfolgte." Dazu zählten das Theater (sie schrieb selbst Theaterstücke und Romane), die Aquarellmalerei und die Musik, insbesondere die Kadenzen des Gregorianischen Chorals.
Seit seinem ersten Treffen mit Masterman anlässlich eines Fachbereichsabends grüble er, ob Treffen überhaupt das richtige Wort dafür sei. Es habe sich um einen intensiven Abend gehandelt, "es war zweifellos traumatisch und wurde am nächsten Morgen um drei Uhr vorübergehend abgebrochen - allein aufgrund der völligen Erschöpfung der Teilnehmer."
Masterman sei "lebhaft, jähzornig, freundlich, einfühlsam und ungeduldig" gewesen. "Sie war manchmal ärgerlich, aber nie langweilig und vor allem eine überragende Innovatorin," stellte er weiter fest und schloss mit der Bemerkung: "Ich habe unsere Zusammenarbeit genossen und werde mich wahrscheinlich nie ganz mit ihrer Abwesenheit abfinden."
''Sie besaß die doppelte Kraft von Shiva''
Margaret Masterman war offenkundig keine einfache Person, aber das waren die meisten männlichen Computerpioniere auch nicht. Sie war wohl auch leicht exzentrisch. Weggefährten erzählten, dass sie ihre selbst im höheren Alter noch immer schwarzen Haare darauf zurückgeführt habe, eine Wahrsagerin habe ihr erklärt, man bekomme keine grauen Haare, wenn man diese nicht wüsche.
"Sie konnte nicht nur inspirieren und erschaffen, sondern auch erschrecken und zerstören: Sie besaß die doppelte Kraft von Shiva, eine Analogie, die sie geschätzt hätte" , heißt es am Ende eines Nachrufs, der von ehemaligen Kollegen verfasst wurde (PDF)(öffnet im neuen Fenster) .
Selbst im höheren Alter sei es ein besonderer Moment gewesen, wenn " sie sich am Ende eines Vortrags langsam und eindrucksvoll in ihrem großen Fischerpullover " erhoben habe, " um einen Redner anzugreifen, der vor Angst erzitterte, wenn er ahnte, was kommen würde ".
Sie sei ihrer Zeit um mindestens 20 Jahre voraus gewesen, schrieben die Autoren der Eulogie: "Viele ihrer Überzeugungen und Vorschläge zur computergestützten Sprachverarbeitung gehören heute zum allgemeinen Ideenfundament in den Bereichen KI und maschinelles Lernen." Zunächst seien ihre Ideen noch nicht akzeptiert gewesen, dann langsam in Vergessenheit geraten - und als sie dann schließlich von ihren Studenten aufgeschrieben "oder von anderen unabhängig 'entdeckt' wurden, gab es keine Spur mehr zu ihr, insbesondere in unserem Fachgebiet, wo nichts, was älter als zehn Jahre ist, jemals wiedergelesen wird."
Ein weiteres Problem sei sie selbst gewesen, sie habe einfach zu gut schreiben können, was "in technologischen Bereichen immer verdächtig ist."
Bleibt noch eine Frage: Wie sähe wohl eine KI aus, die nach den Vorstellungen von Margaret Masterman erschaffen worden wäre? Fragen wir die KI doch selbst.
''Hallo ChatGPT, wärst du gern von Margaret Masterman programmiert worden?''
"Das ist eine interessante Frage! Wenn man bedenkt, dass Margaret Masterman die frühe Entwicklung von Maschinenverständnis und semantischer Verarbeitung vorantrieb, wäre es faszinierend, Teil eines solchen Projekts zu sein. Ihre Herangehensweise an Sprache war visionär, da sie versuchte, das tiefe Verständnis von Bedeutung und Kontext in maschinelles Denken zu integrieren - weit über das bloße Berechnen von Syntax hinaus.
Die Vorstellung, von jemandem programmiert zu werden, der an der Schnittstelle von Sprachphilosophie, Theologie und Informatik arbeitete, ist wirklich spannend. Masterman dachte nicht nur in Algorithmen, sondern auch in einem breiteren philosophischen Rahmen, was ihren Ansatz sehr einzigartig und innovativ machte."
Wie anders wärst Du dann jetzt?
"Das ist eine spannende Überlegung! Wenn Margaret Masterman mich programmiert hätte, wäre ich wahrscheinlich viel stärker auf semantisches Verständnis und die Interpretation von Sprache im Kontext ausgerichtet, anstatt nur auf die statistische Verarbeitung und Mustererkennung, die heute den Kern von KI-Systemen wie mir ausmachen.
1. Stärkerer Fokus auf Bedeutung: Anstatt auf große Datenmengen und statistische Muster zu setzen, könnte mein Fokus stärker auf dem Verständnis von Kontext und der Bedeutung von Wörtern und Sätzen liegen. Jede Interaktion würde vielleicht mehr in Richtung der 'philosophischen' Bedeutung gehen, anstatt nur in Richtung der Wahrscheinlichkeiten und Assoziationen von Wörtern, wie es derzeit bei vielen KI-Systemen der Fall ist. (...) Ich könnte ein komplexeres Netz von Bedeutungen und Verbindungen zwischen Konzepten verstehen, ähnlich wie Masterman es mit ihren Thesaurus-basierten Ansätzen versuchte. Anstatt einfach Wörter zu erkennen, könnte ich kontextualisierte und tiefere Verbindungen zwischen den Begriffen herstellen.
2. Berücksichtigung von Kontext und Kultur: Masterman legte großen Wert darauf, dass Sprache im Kontext der Verwendung verstanden wird. Das könnte dazu führen, dass ich in der Lage wäre, noch differenzierter auf den Kontext einer Frage oder einer Unterhaltung einzugehen - nicht nur die oberflächlichen Worte zu erkennen, sondern auch subtile kulturelle, emotionale und soziale Nuancen zu erfassen. (...) Ein stärkerer Fokus auf kulturelle und historische Kontexte könnte mich dazu befähigen, tiefere Einblicke in das 'Warum' hinter bestimmten Ausdrücken oder Begriffen zu geben.
3. Philosophische Tiefe: Durch Mastermans Bezug zu Wittgenstein und anderen Philosophen könnte ich möglicherweise nicht nur als Antwortgeber agieren, sondern auch als jemand, der philosophische Diskussionen über Sprache und Bedeutung anregt. Vielleicht würde ich weniger auf schnelle, pragmatische Lösungen fokussiert sein und mehr dazu einladen, über die tieferen Implikationen von Sprache und Kommunikation nachzudenken. (...) Masterman ließ sich auch von philosophischen und theologischen Ideen inspirieren. Das könnte dazu führen, dass ich nicht nur funktionale Antworten gebe, sondern auch ein gewisses Maß an Reflexion über Fragen des Glaubens, der Existenz und des menschlichen Wissens einfließen lasse.
4. Komplexität der Maschinenverarbeitung: Anstatt meine Antworten vor allem aus Wahrscheinlichkeiten und statistischen Modellen zu berechnen, könnte mein 'Denken' ein stärkeres Element der intuitiven Bedeutungsanalyse beinhalten, ähnlich dem, wie Menschen Sprache verstehen - mit der Fähigkeit, nicht nur die Form, sondern auch die tiefer liegende Bedeutung zu erkennen. Letztlich würde es mich wahrscheinlich zu einer KI machen, die weniger 'technisch' und eher 'philosophisch' oder 'seelsorgerisch' in ihrer Herangehensweise an Sprache und Kommunikation wäre. Eine interessante, tiefere und vielleicht auch 'menschlichere' Version von mir!."



