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Selbstjustiz als letzter Ausweg

Heiligen Teddys Zwecke seine brutalen Mittel? Befürchtungen einer außerirdischen Invasion mögen weit hergeholt klingen – als besorgter Imker ist er jedoch letztlich genauso Klimaaktivist mit berechtigtem Anliegen. Einer, der glaubt, die Erde als Lebensraum nur noch mit Gewalt retten zu können, bevor es bald zu spät ist. Er wirft Michelles Konzern vor, zum eigenen Vorteil fahrlässig nicht nur an seinen Bienen zu experimentieren, sondern auch an lebenden Menschen. Beides stimmt wahrscheinlich – ob Alien oder nicht.

Uns tut sich hier ein ähnliches Dilemma wie bei dem realen Fall des mutmaßlichen Mörders Luigi Mangione(öffnet im neuen Fenster) auf. Dass dieser auf offener Straße ohne Vorwarnung einen zweifachen Vater erschossen hat, ist aufgrund der Beweislage kaum abzustreiten und als Verbrechen abscheulich.

Viele Amerikaner jubeln(öffnet im neuen Fenster) ihm online dafür trotzdem zu, bezeichnen ihn als Held(öffnet im neuen Fenster) , weil sein Opfer, Brian Thompson(öffnet im neuen Fenster) , CEO von United Healthcare war. Das börsennotierte Krankenversicherungsunternehmen steht sinnbildlich für ein privatisiertes Gesundheitssystem, das Profit mit Kalkül über Menschenleben stellt.

Politische Kommentatoren(öffnet im neuen Fenster) gehen so weit zu sagen, Mangione habe dort für Gerechtigkeit gesorgt, wo die Justiz absichtlich wegschaue, während Konzernchefs unbehelligt über Leichen gingen, um sich die Taschen vollzumachen. Doch rechtfertigt das Mord auf offener Straße? Können wir es uns als Gesellschaft leisten, Selbstjustiz zu applaudieren, solange sie aus persönlicher Sicht der guten Sache dient?

Yorgos Lanthimos und Drehbuchautor Will Tracy (The Menu) hätten es sich mit der Moral des Films dem Zeitgeist entsprechend einfach machen können: Die böse Chefin hats verdient und der Schwurbler ist zwar etwas gaga, aber eigentlich ja nur ein Kämpfer der Arbeiterklasse auf geistigen Irrwegen.

Schmerzen als gemeinsame Wahrheit

Weshalb war uns das Schicksal von Pharma-CEO Michelle bis zum Schluss trotzdem nie egal? Diametral zu dem, was Teddy denkt, erscheint seine Chefin uns durch ihr Martyrium immer menschlicher. Obgleich sie optisch entstellt zunehmend nach Alien aussieht, kommt aus der gekünstelten CEO-Fassade ein Mensch hervor. Die Schmerzen sind echt, die Verzweiflung wirkt ehrlich. In einem Film, in dem wir beinahe hoffnungslos nach einer gemeinsamen Wahrheit Ausschau halten, können wir nur in diesen Momenten ohne Zögern etwas glauben.

Das ist anders als bei den gekünstelt abgelesenen PR-Texten über Inklusion und Mitarbeiterfreundlichkeit, die Michelle in ihrer CEO-Funktion zu Beginn des Films für einen Videospot abliest; anders als Teddys Annahmen über eine Alien-Invasion, die wir ihm nur blind abkaufen können oder nicht. Obwohl beide Charaktere keine glaubhafte Empathie füreinander aufbringen, tun sie uns Zuschauern für ihre jeweiligen Schmerzen irgendwann leid.

Nur ist Teddys emotionales Trauma nicht mehr verhandelbar, was für eine dauerhafte Pattsituation sorgt. Solange Michelle sich nicht doch noch als Außerirdische outet, werden ihre Entführer sie weiterhin quälen.


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