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Brake by Wire ausprobiert: Wenn die Bremse trocken wird

Elektroautos müssen nur noch in wenigen Fällen wirklich bremsen. Doch lässt sich die bewährte Hydraulik problemlos ersetzen?
/ Friedhelm Greis
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Ein elektromechanischer Bremssattel von ZF für die Hinterachse (Bild: Friedhelm Greis/Golem.de)
Ein elektromechanischer Bremssattel von ZF für die Hinterachse Bild: Friedhelm Greis/Golem.de

Wenn eine seit 100 Jahren bewährte Technik durch eine neue ersetzt werden soll, muss es gute Gründe geben. Obwohl hydraulische Bremsen zuverlässig funktionieren, entwickeln Zulieferer wie ZF neue Systeme, die nicht nur ohne mechanische Verbindung zwischen Bremspedal und Bremse funktionieren. Auf einem Testgelände in Friedrichshafen sind wir eine Runde mit einem Auto gefahren, das eine "trockene" , elektromechanische Bremse nutzt.

Ebenso wie Steer-by-Wire beim Lenken nutzt Brake-by-Wire nur elektrische Signale, um den Wunsch des Fahrers umzusetzen. Allerdings schließt das nicht aus, dass die Bremswirkung weiterhin über ein hydraulisches System erfolgt. Es gibt sogar hybride Systeme, bei denen hydraulische und elektromechanische Bremsen (EMB) im selben Fahrzeug eingesetzt werden.

Doch worin besteht der Vorteil von "trockenen" gegenüber den "nassen" Bremssystemen? Die Hydraulikbremse wurde immerhin schon Anfang der 1920er Jahre von dem US-Amerikaner Malcolm Loughead(öffnet im neuen Fenster) patentiert und seither kontinuierlich weiterentwickelt. Vor allem in Verbindung mit Bremskraftverstärkern und elektronischen Systemen wie ABS und ESP ermöglicht sie sichere Bremsvorgänge und eine bessere Kontrolle des Fahrzeugs.

Günstiger und reaktionsschneller

ZF nennt eine Reihe von Gründen(öffnet im neuen Fenster) , die für den Umstieg auf die trockene Bremse sprechen. Die EMB sei reaktionsschneller und ermögliche bei Fahrzeugen mit E-Antrieb eine optimierte Rekuperation, außerdem niedrigere Wartungskosten. In der Produktion bedeute der Verzicht auf ein Hydrauliksystem "einen signifikant niedrigeren Montage- und Logistikaufwand" , da das System aus weniger Teilen bestehe, schrieb ZF bei der Vorstellung von EMB im November 2023(öffnet im neuen Fenster) .

Für Autofahrer ist es vermutlich eine merkwürdige Vorstellung, dass zwischen Bremspedal und Bremswirkung keine mechanische Verbindung mehr existiert. Allerdings ist es bei Elektroautos ohnehin schon so, dass die Bremswirkung in den meisten Fällen nicht durch die Reibbremse erfolgt, sondern durch die Rekuperation. Dazu verfügen elektromechanische Bremskraftverstärker(öffnet im neuen Fenster) (eKBV) über einen Bremspedalstellungsgeber und einen zusätzlichen Druckspeicher, der den Bremsdruck beim Rekupieren aufnimmt.

Bremse nur noch in Extremsituationen im Einsatz

BMW will bei der Neuen Klasse künftig mit den E-Maschinen bis zum Stillstand abbremsen . Den Entwicklern zufolge lassen sich über die E-Maschinen 98 Prozent aller Bremsvorgänge komplett bewältigen. Damit könne die Rekuperation bei heckgetriebenen Fahrzeugen um 60 Prozent und bei Allradautos um 40 Prozent gesteigert werden. Nur bei starken Bremsvorgängen wie Gefahrenbremsungen müsse die Reibbremse noch eingreifen.

Das heißt: Vor allem in solchen Extremsituationen muss eine EMB mit einem Hydrauliksystem konkurrieren können. Laut ZF ist das elektromechanische System dann sogar im Vorteil. "Insbesondere bei hochdynamischen Manövern - wie beispielsweise bei gleichzeitigem Bremsen und Lenken - weisen trockene By-Wire-Lösungen Vorteile gegenüber traditionellen hydraulischen Bremsen auf" , schreibt der Hersteller.

Weil moderne Autos immer schwerer würden, müsse der ideale Bremsdruck innerhalb kürzester Zeit aufgebaut werden. Laut ZF kann bei einer automatischen Notbremsung der Bremsweg bei einer Geschwindigkeit von 100 km/h um bis zu neun Meter kürzer ausfallen als bei herkömmlichen Bremssystemen.

Gerade bei E-Autos soll die EMB einen weiteren Vorteil haben. Die sogenannten Restschleifmomente, die bei konventionellen Bremssystemen durch ein minimales Anliegen der Bremsklötze auf den Bremsscheiben entstünden, würden, "auf nahezu null" reduziert. Das reduziere nicht nur die Feinstaubemissionen, sondern auch den Energieverbrauch.

Ebenso wie beim strombasierten Lenken stehen die Entwickler beim Brake-by-Wire vor der Herausforderung, den Wegfall der mechanischen Verbindung zu simulieren.

Wie fährt sich eine EMB bei Vollbremsung?

"Unser Brake-by-Wire-System verfügt über ein simuliertes Bremspedal, das vollständig elektrisch ist. Es liefert dem Fahrer die gewünschte Bremskraft und gibt dabei gleichzeitig ein Kraftfeedback(öffnet im neuen Fenster) - ähnlich wie bei einem heutigen Gaspedal," sagte ein ZF-Sprecher.

Um die Funktion zu demonstrieren, stellte ZF auf dem Gelände in Friedrichshafen einen umgebauten 4er-BMW zur Verfügung. Auf der Testfahrt konnten wir bei den Bremsvorgängen subjektiv keinen Unterschied zu einem Hydrauliksystem feststellen. Auch bei mehreren Vollbremsungen mit ABS-Eingriff reagierten Bremse und Bremspedal wie bei einem herkömmlichen System.

Redundante Systeme für Daten und Strom

Die Herausforderung für die Entwickler besteht bei der EMB unter anderem darin, an den einzelnen Bremsen gleichzeitig den gleichen Bremsdruck zu erzeugen. Bei einem Hydrauliksystem ist dies rein physikalisch der Fall. Bei der EMB lässt sich das elektronisch überwachen. Um eine hohe Ausfallsicherheit zu gewährleisten, sind die Systeme für Datenübertragung und -verarbeitung sowie für die Energieversorgung doppelt vorhanden. Das ist auch beim Steer-by-Wire-System der Fall .

Die EMB funktioniert in diesem Sinne ähnlich wie eine elektrische Parkbremse(öffnet im neuen Fenster) (EPB), die schon in vielen Fahrzeugen integriert ist. Während die Parkbremse über eine Spindel zusätzlich auf die Hydraulikbremse wirkt, gibt es bei der EMB nur Elektromotoren, die die Bremsbacken auf die Scheibe drücken. Die Funktion der Parkbremse wird ebenfalls übernommen.

Brake-by-Wire geht auch hydraulisch

Laut ZF ist Letzteres sogar bei schweren Fahrzeugen möglich, bei denen elektrische Parkbremsen nicht die erforderliche Bremskraft aufbringen können. Denn die EPB sei beispielsweise nicht für Mehrkolben-Bremssättel konzipiert, so dass in solchen Fällen spezielle Trommelbremsen(öffnet im neuen Fenster) zum Einsatz kämen.

Das "Bremsen per Draht" bedeutet wie anfangs erwähnt nicht, dass damit kein hydraulisches System angesteuert werden kann. Die Signale des Stellungsgebers können auch dazu genutzt werden, über einen Aktuator hydraulischen Bremsdruck aufzubauen. Bosch bietet ebenfalls ein solches System an(öffnet im neuen Fenster) . Es verfügt über zwei redundante Aktuatoren, da das ESP in der Lage sein muss, jedes Rad einzeln zu bremsen.

Darüber hinaus gibt es hybride Systeme, bei denen die Hinterachse mit einem trockenen System ausgestattet wird, während an der Vorderachse eine konventionell-hydraulische Bremse agiert.

Großauftrag für fünf Millionen Hybridsysteme

Auf der CES gab ZF Anfang 2025 bekannt(öffnet im neuen Fenster) , einen Großauftrag für die Lieferung eines hybriden Systems erhalten zu haben. Fast fünf Millionen Fahrzeuge eines "weltweit führenden Fahrzeugherstellers" sollen mit EMB ausgestattet werden.

Was die weltweiten Märkte betrifft, schätzt ZF die europäischen Hersteller eher konservativ ein. "In China sehen wir eine starke Nachfrage nach den trockenen Systemen, die in dieser Marktregion die größten Wachstumspotenziale haben. In Europa wird die Technologie langsamer adaptiert" , sagte der Entwicklungsleiter Philippe Garnier. In Nordamerika erwarte ZF die größten Wachstumspotenziale bei hybriden Systemen, was an der Beliebtheit und der großen Verbreitung von Pick-up-Trucks liege.

Sind die Tage der nassen Bremse daher mittel- und langfristig gezählt? Das dürfte unter anderem davon abhängen, ob die trockenen Systeme ebenso zuverlässig sind und die Hersteller dadurch Kosten sparen können. Der Weg zu vollelektrischen und softwaredefinierten Autos dürfte diesen Trend beschleunigen.

Offenlegung: Die Kosten für die Reise nach Friedrichshafen hat ZF übernommen. Unsere Berichterstattung ist davon nicht beeinflusst und bleibt gewohnt neutral und kritisch. Der Artikel ist, wie alle anderen auf unserem Portal, unabhängig verfasst und unterliegt keinerlei Vorgaben seitens Dritter.


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