Zum Hauptinhalt Zur Navigation

Agilität: Ohne Produktvision ist agiles Arbeiten sinnlos

Wer seine Route nicht plant, kommt nur zufällig am gewünschten Ort an - oder gar nicht. Klingt logisch, wird aber in der Produktentwicklung oft vergessen.
/ Marcel Gießler
4 Kommentare News folgen (öffnet im neuen Fenster)
Wer keine Route plant, verirrt sich leicht. (Bild: Pixabay)
Wer keine Route plant, verirrt sich leicht. Bild: Pixabay / Pixabay License

Seit mehr als zehn Jahren begleite ich verschiedene Teams und Organisationen auf ihrem Weg hin zu agiler Produktentwicklung. Dabei taucht ein Muster immer wieder auf: Es gibt keine Vision und keine Roadmap für das Produkt, es gibt nur eine Liste von gewünschten Funktionen, die nicht vom Kunden, sondern vom Management kommt.

"Wir brauchen ein Portal für unsere Außendienstmitarbeiter, welches alle Kundendaten, Produkte und Zusatzinformationen an einem Platz bietet." So die Idee aus dem Management. Die 1.500 Außendienstler finden die Vorstellung super, bisher sammeln sie sich alle Informationen aus zig Anwendungen mühsam zusammen, um ein umfassendes Kundenbild für die Beratung zu bekommen.

Jeder Berater hat seine eigene Art und Weise, ein Kundengespräch aufzubauen, daher kommen sehr schnell sehr viele Anforderungen zusammen, die alle am wichtigsten sind - je nachdem, wen man fragt. Das Product Backlog, die priorisierte Liste aller Anforderungen, bekommt schnell den Spitznamen "der Sumpf", da es mehrere Hundert Einträge hat und vieles darin langsam versickert.

Wie bekommt man diesen Sumpf ausgetrocknet und wie wird damit das Produkt ein Erfolg?

Nach jedem Schritt reflektieren

Agil zu arbeiten bedeutet, den Weg zum bestmöglichen Produkt in kleinen, iterativen Etappen zu gehen, nach jeder Etappe zu reflektieren und den nächsten Wegabschnitt zu planen. Ohne klares Ziel ist das schlichtweg nicht möglich, dann verkommt ein agiles Vorgehen zu dem, was ihm vorurteilsmäßig manchmal unterstellt wird: dass spontan und planlos losgerannt wird.

Ist die Vision aber dem gesamten Produktteam klar, entdeckt dieses unterwegs Abkürzungen und effizientere Routen oder umfährt Hindernisse gekonnt. Ganz wie moderne Routenplaner. Netflix startete als DVD-Versand mit der Vision "To entertain the world" und wurde erst mit den schnelleren Datenübertragungsraten zum Streaminganbieter, dessen Wert 2020 erstmals über dem von Disney lag.

Reklame

Wie Agilität gelingt: Ein agiles Mindset entwickeln - typische Hürden meistern (Dein Business)

Jetzt bestellen bei Amazon (öffnet im neuen Fenster)

Eine gute und klare Produktvision gibt aber nicht nur ein Ziel vor, sie verbindet auch und motiviert das gesamte Produktteam. Daniel Pink beschreibt in seinem Buch Drive(öffnet im neuen Fenster) , was Menschen wirklich motiviert: Purpose (Sinn, Zweck), Autonomy (Autonomie) und Mastery (Perfektionierung).

Die Vision erfüllt genau diese drei Bedürfnisse: Sie gibt allen Beteiligten einen übergeordneten Sinn und das Gefühl, an etwas Großem mitzuarbeiten (Purpose). Der Weg zu diesem Ziel ist flexibel und wird vom Produktteam selbst gewählt und begangen (Autonomy). Auf diesem Weg gibt es viel zu lernen und die zugrunde liegende Produkttechnologie wird stetig verbessert (Mastery).

Da der Erfolg eines jeden Produkts anhand der Nutzerzufriedenheit gemessen werden kann, sollte auch jede Produktvision bei den Nutzern starten.

Personas: Der erste Schritt zur Vision sind die Nutzer

Selbst wenn das eigene Produkt eine interne Schnittstelle ist, die von verschiedenen Systemen genutzt wird, ist es sehr ratsam, sich über die verschiedenen Nutzer Gedanken zu machen und deren Bedürfnisse und Probleme zu kennen.

Um eine Nutzergruppe besser darstellen zu können, wird häufig das Konzept einer Persona verwendet. Die Persona vereint die Merkmale einer homogenen Nutzergruppe in einer Person und bündelt die Probleme und Herausforderungen der Nutzergruppe. Mit demografischen Merkmalen und einem einprägsamen Namen ergänzt entsteht so eine Person mit Charakter, anhand derer konkrete Produktideen besser durchdacht werden können.

Die Beispiel-Persona Vera Vorstand repräsentiert dann etwa das höhere Management. Im Vergleich dazu gibt es vielleicht Sascha Sachverständiger, der wiederum ganz anderen täglichen Herausforderungen gegenübersteht, die genauso wichtig sein können.

Bei Personas sollte der Schwerpunkt auf den Problemen und Herausforderungen liegen, weniger auf den demografischen Attributen, wie dieses Beispiel(öffnet im neuen Fenster) perfekt zeigt.

Gerade bei Produkten mit mehreren wichtigen Nutzergruppen wie etwa Plattformen ist es schwer, die Anforderungen der verschiedenen Personas zu priorisieren. Dann kann es helfen, sich auf den Mehrwert für die einzelnen Gruppen zu konzentrieren, um sich nicht in den Details zu verlieren.

Im Beispiel unseres Portals ist die Hauptnutzergruppe scheinbar schnell identifiziert: die Außendienstmitarbeiter. Allerdings ist diese Gruppe sehr heterogen. Gebietsleiter haben andere Herausforderungen als Berater und Neueinsteiger haben wieder andere. Daher wird die große Nutzergruppe zerlegt in mehrere Personas: Gerd Gebietsleitung, Beate Beratung und Nina Neuling. Die größte Untergruppe wird dabei durch die Persona Beate Beratung vertreten. Ihre Herausforderungen sind der hohe Aufwand für die Vorbereitung eines Gesprächs und das Zusammensuchen der notwendigen Informationen aus den vielen verschiedenen Systemen.

Mehrwert und Nutzerbindung

"Der:die Product Owner:in ist ergebnisverantwortlich für die Maximierung des Wertes des Produkts" - so steht es im Scrum Guide, einem Leitfaden zur Scrum-Methode, die besonders bei der agilen Softwareentwicklung eingesetzt wird. Aber wie wird der Wert eines Produktes gemessen? Die drei folgenden Perspektiven geben einen guten Überblick, auch hier steht der Nutzer im Mittelpunkt.

Der wirtschaftliche Wert wird hauptsächlich über Kennzahlen wie Umsatz, Return on Investment (RoI) oder Total Cost of Ownership dargestellt.

Der technologische Wert wird durch Messgrößen wie den Usage Index (Wie viel Prozent der Funktionen werden tatsächlich genutzt?) oder dem Installed Version Index (Wie viel Prozent arbeiten mit der neusten Version?) repräsentiert.

Der dritte Teil ist der Wert für die Nutzer. Eine Möglichkeit, diesen zu messen, ist der Net Promoter Score (NPS). Er gibt an, inwiefern eine Person das Produkt weiterempfehlen würde. Bei einer in der Harvard Business Review veröffentlichten großen Studie(öffnet im neuen Fenster) wurden über 10.000 US-Bürger dazu aufgerufen, 50 Unternehmen in 30 verschiedenen Werte-Elementen auf einer Skala von 0 (sehr schlecht) bis 10 (sehr gut) zu bewerten.

Reklame

Wie Agilität gelingt: Ein agiles Mindset entwickeln - typische Hürden meistern (Dein Business)

Jetzt bestellen bei Amazon (öffnet im neuen Fenster)

Die 30 Elemente sind ähnlich der Maslowschen Bedürfnispyramide angeordnet und beschreiben jeweils einen Aspekt, der Nutzern Mehrwert bringt. Sie sind auf jedes Produkt anwendbar, egal ob Softdrink, mobile App oder Kleidungsstück, und voneinander unabhängig.

Auf der untersten Ebene der Pyramide finden sich funktionale Werte, wie "spart Zeit" oder "reduziert Kosten". Damit ist der Amazon Prime Service damals gestartet. Hier ist die Nutzerbindung schwach. Sobald ein Produkt gefunden wird, das mehr Zeit spart, wechselt der Kunde.

Die zweite Ebene gruppiert die emotionalen Elemente, wie "Spaß/Unterhaltung" oder "bietet Zugang". Diese beiden Elemente sind bei Netflix stark ausgeprägt . Hier ist die Hürde eines Produktwechsels für eine Nutzerin schon höher, da sie beispielsweise bestimmte Lieblingsserien hat, die ein anderer Streamingdienst nicht bietet.

Eine noch höhere Nutzerbindung erreicht man über die dritte Ebene der lebensverändernden Elemente wie "Motivation". Fitness-Apps, die Schritte zählen, mich an mein Workout erinnern und in denen ich mich mit meinen Freunden messen und vergleichen kann, sind ein gutes Beispiel.

Die Spitze der Pyramide, der "soziale Einfluss", bildet nur einen Wert, die "Selbsttranszendenz". Wenn ich das Produkt nutze, tue ich gleichzeitig etwas Gutes. Die Modemarke Toms verspricht, mit jedem gekauften Paar Schuhe ein weiteres Paar an Bedürftige zu spenden, Amazon Smile spendet einen Teil jedes umgesetzten Euros an eine soziale Einrichtung und so weiter.

Erzielt ein Unternehmen bei vier oder mehr Elementen hohe Werte (acht oder höher), ist der NPS dreimal so hoch wie bei Unternehmen mit nur einem hohen Element. Und 20-mal so hoch wie bei Unternehmen mit keinem hohen Element.

Dabei ist es allerdings wichtig, sich seiner Stärken bewusst zu sein und nicht zu versuchen, alle 30 Elemente gleichzeitig zu erhöhen. Selbst Apple kam nur bei 11 von 30 Elementen zu hohen Werten. Die Studie zeigt zudem einen Zusammenhang mit Umsatz- und Marktanteilwachstum, was wiederum den wirtschaftlichen und technologischen Wert darstellt.

Aber was hat das alles mit der Produktvision zu tun?

Produktvision: ein Bild von der Zukunft

Folgendes: Nur wenn allen bewusst ist, wie das Produkt für die Nutzer Mehrwert schafft und in Zukunft schaffen soll, ist ein klares Ziel für alle definierbar. Zudem bieten die Werte-Elemente eine sehr gute Möglichkeit, ein Produkt in der Zukunft sinnvoll zu erweitern.

Amazon Prime startete auf der funktionalen Ebene mit schnellem Versand zu günstigen Konditionen. Mit unendlichem Speicher für Fotos wuchs es einerseits horizontal im funktionalen Bereich (Element "reduziert Risiko"). Mit der Hinzunahme des Streamingangebots adressiert es jetzt auch Elemente auf der emotionalen Ebene der Wertepyramide und wächst damit vertikal.

Jedes Produktteam sollte sich einmal der Aufgabe stellen, die vier wichtigsten Werte-Elemente für das Produkt im Rahmen eines Workshops zu bestimmen. Bei jeder User Story (oder Anforderung in anderer Notation) kann hinterfragt werden, auf welches dieser Elemente die Anforderung abzielt. Mehr agiler Fokus geht kaum.

Die Nutzer zu verstehen, bildet die Grundlage der Vision. Zu erkennen, wie für diese Nutzer Mehrwert entsteht, ist für das Produkt und damit die Vision umso wichtiger.

Auch die Product Owner unseres Außendienstportals haben sich Gedanken über die Werte-Elemente gemacht und kamen zu folgendem Ergebnis: Der wichtigste Wert ist auf der funktionalen Ebene zu finden. "Aufwand reduzieren" adressiert genau die beiden Herausforderungen, denen Beate Beratung in ihrem Alltag begegnet. Daneben wurden noch die drei Werte "integriert", "Vielfalt" und "Motivation" ausgewählt, damit wurden die Leitplanken für das Portal gesetzt.

Eine Vision kann mehrere Ebenen haben

Wir kennen unsere Nutzer und wir wissen, wie wir einen Mehrwert schaffen wollen. Was noch fehlt, ist ein Zielzustand in der Zukunft, der vielleicht unerreichbar scheint, aber alle motiviert und vereint - die Vision.

Eine Produktvision kann auf mehrere Arten dargestellt werden: als Satz, als Bild, aber zum Beispiel auch durch Ziel-Elemente in der Wertepyramide. Als Ergänzung zu den Werte-Elementen bietet sich oft eine bildliche Darstellung der Vision an.

Dafür denkt sich das ganze Produktteam fünf Jahre in die Zukunft - in eine sehr erfolgreiche Zukunft, in der das Produkt sich perfekt entwickelt hat und alle Erwartungen übertroffen wurden. Nun bringt das wichtigste Branchenmagazin (oder Webseite) eine Coverstory zum Produkt.

Reklame

Wie Agilität gelingt: Ein agiles Mindset entwickeln - typische Hürden meistern (Dein Business)

Jetzt bestellen bei Amazon (öffnet im neuen Fenster)

Wie sieht dieses Magazin-Cover aus? Gemeinsam gestaltet und am besten anschließend im Team-Arbeitsbereich aufgehängt, bleibt dieses Zielbild immer präsent. In Kombination mit den Werte-Elementen hat man einen zuverlässigen Kompass, der hilft, den richtigen Weg zu finden.

Im Falle des Portals hat sich das Team auf einen Slogan für das Produkt geeinigt: "Einfach beraten!" Dieser Satz ist sehr einprägsam, fasst den Kern des Produkts zusammen und beschreibt auch das Hauptziel der Persona Beate Beratung auf den Punkt.

Mit dem Visions-Dreiklang aus Nutzer, Werte-Elementen und Coverstory sind wichtige Grundlagen und Wegweiser für die agile Entwicklung gelegt und die Suche nach dem besten Weg zu diesem Ziel kann beginnen.

Marcel Gießler(öffnet im neuen Fenster) begleitet seit mehr als zehn Jahren Teams und Organisationen aus verschiedenen Branchen als Transformation Coach, Agile Coach oder Scrum Master und hält Trainings und Workshops im weiten Feld der Agilität.

Weitere Informationen zum Thema Agile gibt es hier in unserem Karriere-Ratgeber


Relevante Themen