Agilität: Agiles Arbeiten braucht einen neuen Führungsstil

"Wir erschließen bessere Wege, Software zu entwickeln, indem wir es selbst tun und anderen dabei helfen." Mit diesem Satz beginnt das Manifest für Agile Softwareentwicklung (öffnet im neuen Fenster) aus dem Jahr 2001. Seither hat sich einiges getan, viele Teams arbeiten inzwischen agil und erzielen damit gute Ergebnisse. Damit ein agiles Team aber sein volles Potenzial entfalten kann, braucht es ein dazu passendes Umfeld und damit auch agile Führungskräfte. Doch was bedeutet Agile Leadership im Alltag und im Umgang mit dem Team?
Das Team braucht Freiraum
Im klassischen Management wird das Team über die Vorgabe von Meilensteinen gesteuert, diese werden oft sogar auf Personenebene definiert und ihr Erreichen detailliert geplant und überwacht. Zudem erhalten Teammitglieder detaillierte Anforderungen, die es umzusetzen gilt und an denen sie gemessen werden.
Oft werden auch die technischen Details einer fachlichen Anforderung schon an das Team übergeben und lassen somit keinen Freiraum in der Lösungsfindung. Beispielsweise wird eine benötige Eingabemaske im Detail mit Pixelabständen beschrieben oder eine Schnittstellendefinition angehängt, ohne dem Team den Sinn oder den Mehrwert der Änderung zu verdeutlichen. Das Entwicklungsteam wird zur reinen Umsetzungstruppe.
Ein agiles Team braucht eine Vision, die es mitträgt, bei der jedes Mitglied den Sinn dahinter versteht und somit auch Änderungen nachvollziehen kann. Diese Vision, ergänzt um wichtige Leitplanken, gibt dem Team ein klares Ziel, aber auch genug Raum, den bestmöglichen Weg zu finden. Arbeit wird durch das Team selbst organisiert und der eigene Weg immer wieder reflektiert. Die Führungskraft gibt dem Team den Raum und das Vertrauen, um der Vision Schritt für Schritt näher zu kommen. Trotzdem ist sie nahe am Team und fragt, wo sie helfen kann, steht mit Rat und Tat zur Seite und coacht das Team, wo nötig.
Ich durfte einmal ein Team im Einzelhandel begleiten, das den Abholprozess einer Bestellung neugestalten sollte, die der Kunde in eine Filiale geordert hatte. Anstatt einen neuen Prozess niederzuschreiben und diesen an das Team zu übergeben, wählte der Product Owner (PO) damals einen anderen Weg: Er ließ jedes Teammitglied den aktuellen Prozess erleben, indem jeder eine Bestellung in einer Filiale abholte. Gemeinsam wurden dann die Eckpfeiler der neuen Lösung besprochen. Der PO übergab dem Team das Problem und überließ ihm die Lösungsfindung innerhalb des besprochenen Rahmens. Ich habe selten ein so motiviertes Team erlebt. Es baute dann in einer Art Hackathon einen Prototyp und präsentierte ihn dem PO.
Entscheidungen nach unten geben - mit den richtigen Tools
Offene Fragen und Probleme wurden bisher in der Hierarchie nach oben weitergereicht oder eskaliert und Entscheidungen dann nach unten kaskadiert. Das ist enorm zeitaufwendig und sehr oft sind die Entscheider zu weit weg vom Problem, um eine gute Lösung zu finden. Ist ein Scrum-Team etwa mitten in einem Sprint und muss auf wichtige Entscheidungen warten, bremst dies die Entwicklung aus und auch die Motivation sinkt.
Entscheidungen, die nah am Problem getroffen werden müssen, trifft das Team. Genau dort ist die Expertise vorhanden, um eine Lösung zu finden. Diese Lösung wird direkt durch Feedback validiert und gegebenenfalls angepasst beziehungsweise weiterentwickelt.
Oft besteht Unklarheit darüber, welche Entscheidungen durch das Team getroffen werden dürfen, bei welchen es nochmal Rücksprache mit der Führungskraft bedarf und welche durch die Führungskraft getroffen werden. Hier hilft das sogenannte Delegation Poker (öffnet im neuen Fenster) aus dem Management-3.0-Werkzeugkoffer, Transparenz zu schaffen, indem es häufigen Entscheidungsszenarien eine Delegationsstufe zuordnet. Zudem hilft dieses Tool auch dabei, dem Team mittelfristig mehr Entscheidungsspielraum zu schaffen.
Auch Raum für Experimente ist unerlässlich.
Tipps für Führungskräfte agiler Teams
Das Streben nach Perfektion ist in vielen Führungskräften und Mitarbeitern tief verwurzelt. Dieser Qualitätsanspruch ist per se nichts Schlechtes, oft steht er allerdings einem schnellen Nutzerfeedback im Weg und führt im schlimmsten Fall zu einem qualitativ hochwertigen Produkt, das niemand nutzt.
Zudem sind die Anforderungen an das Produkt oft eine Liste der Ideen des Managements und nicht durch Nutzerfeedback oder ähnliches validiert. Gemessen wird der Output des Teams, also die Menge der Features über die Zeit. Dies sagt allerdings nichts über den Mehrwert der einzelnen Features aus. Die Führungskraft sollte Raum für Experimente und schnelle Prototypen oder MVPs geben, um so ein Produkt zu entwickeln, das die Nutzer in den Mittelpunkt stellt.
Das Team am Outcome, nicht am Output messen
Alle Anforderungen werden als Hypothesen verstanden, die es durch Feedback zu beweisen gilt. Jedes gescheiterte Experiment sollte nicht als Fehlschlag betrachtet, sondern als wichtige Erkenntnis gefeiert werden: Es wurde verhindert, in die Perfektionierung dieses Features viel Geld zu investieren. Ein Team wird am Outcome gemessen, also am Mehrwert für den Nutzer.
Ein Scrum-Team, das ich begleiten durfte, war beispielsweise sehr darauf aus, die eigene Velocity (die durchschnittliche Anzahl fertiggestellter Storypoints pro Sprint) zu maximieren. Allerdings war der Erfolg des Produkts bescheiden. Das Team hatte es geschafft, viel Durchsatz zu erreichen, allerdings kann man auch sehr schnell das Falsche entwickeln. Erst durch den Einsatz von nutzerzentrierten Methoden wie Lean-Value-Hypothesen und Personas konnte das Produkt erfolgreich werden.
Führungskräfte müssen umdenken
Um agilen Teams das Umfeld zu bieten, in dem sie sich bestmöglich entwickeln können, ist ein neuer Führungsstil unumgänglich. Dies benötigt allerdings ein Umdenken in der kompletten Führungsmannschaft des Unternehmens. Was kann aber jede Führungskraft im Alltag sofort ändern, um den ersten Schritt zu gehen? Führung durch Vorbild (Leading by example).
Als Führungskraft ist man immer auch Vorbild und zeigt durch das eigene Verhalten auf, welcher Führungsstil und welches Mindset im Unternehmen verbreitet ist. Um einem agilen Team ein gutes Vorbild zu sein, sind einige Denkmuster besonders wichtig.
Sei authentisch, sei also du selbst und verstelle dich nicht, mache deine Beweggründe und Motivation transparent, sei ehrlich zu dir selbst und anderen und integer.
Zeige emotionale Intelligenz, begegne anderen mit Interesse und Empathie, höre auf deine Gefühle und die von anderen, trainiere deine Soft Skills.
Man lernt nie aus, lebenslanges Lernen ist elementar. Zeige dem Team, dass auch du immer noch dazulernen willst, und motiviere dieses Verhalten auch bei anderen.
Dein oberstes Ziel ist die Entwicklung eines jeden Teammitglieds. Stelle allen deine persönliche, berufliche und fachliche Erfahrung in dem Maße zur Verfügung, wie sie gebraucht wird.
Übertrage Verantwortung in dein Team, indem du Entscheidungen dort treffen lässt, wo alle Informationen und das notwendige Know-how vorhanden sind.
Marcel Gießler(öffnet im neuen Fenster) begleitet seit mehr als zehn Jahren Teams und Organisationen aus verschiedenen Branchen als Transformation Coach, Agile Coach oder Scrum Master und hält Trainings und Workshops im weiten Feld der Agilität.
Weitere Informationen gibt es hier in unserem Karriere-Ratgeber zum Thema Agilität



