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20 Jahre Debian: apt-get install anarchism

Kein Chef, keine Unternehmensrichtlinien, sondern nur ein zusammengewürfelter Haufen von Entwicklern erstellt seit nunmehr 20 Jahren die Distribution Debian. Diskussionen und politische Ideale halten das Projekt zusammen und sorgen für ein Fortbestehen, was einfacher klingt, als es ist.
/ Sebastian Grüner
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Das Debian-Logo wurde 1999 eingeführt und hat sich seitdem nicht verändert. (Bild: Debian)
Das Debian-Logo wurde 1999 eingeführt und hat sich seitdem nicht verändert. Bild: Debian

Auch Hacker brauchen Regeln. Zumindest für den Fall, dass sie sich als große Gruppe organisieren müssen. Den gefundenen Regeln und Richtlinien geht meist eine langwierige und oft hitzige Diskussion voraus. Auf die Spitze getrieben wird das vom Debian-Projekt, dessen Organisationsstruktur wie eine Mischung aus deutschem Provinzsportverein und linkem Wohnprojekt wirkt - einerseits gründlich und korrekt und andererseits für Außenstehende sehr unübersichtlich, fast schon klandestin, aber selbst verwaltet und ohne kommerzielle Interessen.

Langer Weg zur Mitgliedschaft

Wie in einer Dorfgemeinschaft oder einem besetzten Haus müssen sich Neuankömmlinge in Debian zuerst beweisen. Der Einsteig in das Projekt(öffnet im neuen Fenster) ist zunächst relativ einfach, da das Wiki Aufgaben auflistet, die auch Nichtprogrammierer übernehmen können.

Zugriff auf die Infrastruktur erhalten potenzielle Mitglieder aber nur indirekt über einen sogenannten Sponsor(öffnet im neuen Fenster) , der die Qualität der Beiträge bestätigt. Um wenigstens eingeschränkte Rechte zu bekommen, ist eine Bewerbung als Debian-Maintainer(öffnet im neuen Fenster) notwendig.

Dazu muss unter anderem in einer E-Mail - mit GPG-Key unterschrieben - die Übereinstimmung mit den Werten des Projekts bezeugt werden. Zudem braucht es die Empfehlung eines oder mehrerer Projektmitglieder. Für volle Commit- und Wahlrechte ist eine erneute Bewerbung in sieben Schritten(öffnet im neuen Fenster) als Debian Developer erforderlich, wie die Mitglieder offiziell heißen.

Chaos zu Beginn

Als das Projekt von 20 Jahren gegründet wurde und schnell einige Dutzend Beteiligte zu Debian beitrugen, existierte diese rigorose Ordnung noch nicht. So erinnert sich Bill Mitchell in der offiziellen Debian-Geschichtsschreibung(öffnet im neuen Fenster) : "[Wir hatten] keinen Plan und wir begannen auch nicht damit, in geordneter Manier einen zu erstellen. Am Anfang begannen wir damit, Quellen für eine ziemlich zufällige Auswahl an Paketen zusammenzusuchen. Mit der Zeit konzentrierten wir uns auf eine Zusammenstellung von Dingen, die nötig waren, um den Kern einer Distribution zu formen" .

Ein Manifest für Vielfalt und Freiheit

Denn kurz nachdem Linus Torvalds den Linux-Kernel verfügbar gemacht hatte, konnten erstmals komplett freie Distributionen mit GNU-Paketen oder auch X11 erstellt werden. Die damals wohl bekannteste, Softlanding Linux System (SLS), wurde aber schlecht gepflegt und enthielt viele Fehler.

Patrick Volkerding entschied sich, diese Fehler zu beheben und veröffentlichte seine bereinigte Version von SLS als Slackware(öffnet im neuen Fenster) . Volkerding pflegt die älteste bis heute existierende Distribution immer noch. Der damals erst 20-jährige Student Ian Murdoch sah sich mit dem gleichen Problem konfrontiert. Jung und ambitioniert, entschied er sich jedoch, ein eigenes System zu entwickeln, da ihm dies einfacher erschien. So veröffentlichte er im August 1993 Debian Linux, benannt nach seiner damaligen Freundin Debra und sich selbst(öffnet im neuen Fenster) .

Murdoch missfiel aber die Art und Weise, wie bis dahin Distributionen erstellt wurden: "von einer einzelnen isolierten Person oder Gruppe" , wie er in dem im Januar 1994 veröffentlichten Debian-Manifest schrieb(öffnet im neuen Fenster) . Debian hingegen war von Anfang an darauf ausgelegt, als modulares System von vielen Betreuern erstellt zu werden. Diese Offenheit und das Ziel, als Gemeinschaft eine Distribution zu erstellen, waren damals ziemlich einzigartig.

Wohl auch deshalb förderte die Free Software Foundation (FSF) das Projekt offiziell im ersten Jahr des Bestehens. Zudem vertrat Murdoch ähnliche Ziele wie die FSF und das GNU-Projekt. Murdoch wollte die Ideale freier Software mit einer nichtkommerziellen Distribution verfechten, die Software sollte ohne Gewinndruck erstellt werden können.

Ethisches Bekenntnis gegen Postcardware

Nach dem Ausscheiden Murdochs aus dem Projekt und aufgrund einer schnell wachsenden Zahl an Beitragenden und Ideen, auch unfreie Software für Debian anzubieten, sah sich das Projekt gezwungen, zu handeln und seine Positionen erneut zu stärken. Basierend auf der Idee von Ean Schuessler und unter Führung des neuen Projektleiters Bruce Perens entstand der Debian-Gesellschaftsvertrag(öffnet im neuen Fenster) .

In diesem legt das Projekt als solches eindeutig seine Haltung gegenüber den Nutzern und der Gemeinschaft fest. So wird die angebotene Software immer frei sein, Probleme werden transparent bearbeitet und das Projekt erkennt auch unfreie Software an. Diese wird, sofern möglich, auch für Nutzer bereitgestellt, jedoch nie als offizieller Debian-Bestandteil angesehen.

Was freie Software ist, hat die Community in den Debian-Richtlinien für freie Software festlegt. Auch diese spiegeln klar die Ideen der FSF wider und definieren grob die Lizenzbedingungen, unter denen Debian Software vertreiben kann. In einem inoffiziellen FAQ ist sogar festgelegt(öffnet im neuen Fenster) , dass eine Lizenz Softwarenutzer nicht dazu auffordern darf, eine Postkarte an den Entwickler zu schicken. "Sogenannte Postcardware (...) ist nicht frei" , da ein Mensch auf einer einsamen Insel dieser Forderung nicht nachkommen kann oder ein politischer Dissident sich dadurch verraten könnte.

Ideologie-Paket

Mit dem Gesellschaftsvertrag verfestigt Debian klar seine Weltanschauung, die dazu führt, dass auch vermeintlich sehr verschiedene oder gar sich widersprechende Pakete in den Debian-Archiven landen.

Paradebeispiel dafür sind die digitale Fassung der King-James-Bibel(öffnet im neuen Fenster) auf der einen Seite und das Anarchist FAQ auf der anderen(öffnet im neuen Fenster) . Letzteres wird seit 1999 in Debian gepflegt und bietet laut Eigenbeschreibung "Informationen über anarchistische (freiheitlich sozialistische) Theorie und Praxis" . Debian-Nutzer können also tatsächlich über die vor allem von T-Shirts bekannte Zeile apt-get install anarchism wortwörtlich Anarchismus auf ihren Systemen installieren.

Die Debian-Verfassung

Im Anarchist-FAQ wird auch eine mögliche "Wirtschaftsordnung" über Syndikate oder Kooperativen beschrieben(öffnet im neuen Fenster) . Eine der Voraussetzungen für diese Art der Kooperation ist der Grundsatz, dass jeder Beitragende genau eine Stimme erhält, genau so, wie es das Debian-Projekt bei Wahlen handhabt. Kein Entwickler wird bei seiner Entscheidung bevorzugt.

Das für Wahlen nötige Prozedere ist in der Debian-Verfassung(öffnet im neuen Fenster) festgelegt. Darin wird bestimmt, unter welchen Umständen die Gemeinschaft welche Position wählen oder eine technische Entscheidung fällen kann. Gewählt wird nach der Schulze-Methode(öffnet im neuen Fenster) und es gibt sogar einen Schriftführer(öffnet im neuen Fenster) , womit die Debian-Verfassung sehr an die Satzung eines eher typisch deutschen Vereins erinnert.

Hackertypisch sind jedoch einige bestimmte Regularien, wie Punkt 4.2.7. "Q ist die Hälfte der Quadratwurzel aus der Anzahl der gegenwärtigen Entwickler. K ist Q oder 5, je nachdem, welches davon kleiner ist. Q und K brauchen nicht ganze Zahlen sein und werden nicht gerundet." Die Variablen K und Q werden benutzt, um bestimmte Mehrheitsverhältnisse festzulegen.

Diskutieren bis zum Umfallen

Wahlberechtigt sind nur die derzeit knapp 1.000 Debian-Developer, von denen aber nur weniger als 400 an den diesjährigen Wahlen zum Debian-Projektleiter (DPL)(öffnet im neuen Fenster) teilgenommen haben. Diese Wahlbeteiligung gleicht eher der einer Kommunalwahl und wirkt nicht wie die eines basisdemokratischen Projekts, bei dem alle die gleichen Werte vertreten, wie es bei Debian der Fall zu sein scheint(öffnet im neuen Fenster) .

Ein Grund für die geringe Wahlbeteiligung ist wohl auch, dass der Projektleiter nur sehr wenig direkten Einfluss auf die eigentliche Gestaltung der Distribution und eher repräsentative Funktionen hat oder als Vermittler bei projektinternen Problemen dient.

Endlose Debatten

Letztere kommen zwar vergleichsweise häufig vor, die konsensorientierte Community befragt aber nicht direkt den DPL oder den Technischen Ausschuss(öffnet im neuen Fenster) , sie diskutiert viel lieber und vor allem sehr ausgiebig. Aktuell zum Beispiel, wie Systemd als Standard-Init-Dienst in Debian verwendet werden könnte(öffnet im neuen Fenster) .

Dabei versucht Michael Stapelberg, durch Befragung und Diskussionen ein Meinungsbild der Debian-Entwickler zu Systemd zu bekommen. Hier melden sich überdurchschnittlich viele Beteiligte zu Wort, was von außen häufig als zähe und teils auch überflüssige Diskussion wahrgenommen wird, wie das obligatorische Plenum einiger linker Gruppen.

Oft werden Diskussionen wie diese aber zu einem Flame-War, mit gepflegter Stammtischkultur. Im Falle von Systemd wird dabei wiederholt auf die angeblich schlechte Software des Systemd-Gründers Lennart Poettering hingewiesen und Systemd allein deswegen abgelehnt. Dennoch geben sich die Systemd-Maintainer nicht geschlagen und versuchen, durch Argumente sowie das Bereitstellen aktueller Technik ihr Gegenüber zu überzeugen.

Diese Mischung auch Chaos, Regeln, Richtlinien und politischem Selbstverständnis funktioniert offensichtlich und hat viele andere Projekte freier Software geprägt. So gehört Debian seit 20 Jahren zu den führenden Distributionen, gilt als Garant für stabile Software und wird nach wie vor von keinem Unternehmen mit Gewinninteressen direkt unterstützt, wie das bei konkurrierenden Distributionen der Fall ist.


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