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10 Jahre Turtlestitch: Endlich mal was Hübsches coden!

Eine alte Textilkunst neu belebt: Das österreichische Turtlestitch-Projekt bringt das Sticken durch freie Software in die Gegenwart - und in viele Schulen.
/ Erik Bärwaldt
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Codeblock für Codeblock zur schönen Stickerei (Bild: OpenClipart-Vectors/Pixabay)
Codeblock für Codeblock zur schönen Stickerei Bild: OpenClipart-Vectors/Pixabay

Programmieren und Sticken sind auf den ersten Blick ein eher ungleiches Paar. Die Wiener Mediengestalterin Andrea Mayr-Stalder und der Künstler und Programmierer Michael Aschauer haben mit Turtlestitch (früher: Stitchcode) einen Weg gefunden, beides zu verbinden. Vor genau zehn Jahren riefen sie das Projekt ins Leben. Ziel ist es, die alte Handwerkskunst des Stickens mit modernen Methoden der kreativen Textilgestaltung zusammenzuführen und dabei quasi en passant auch noch Programmiertechniken zu vermitteln.

Startschwierigkeiten

Schon im 2. Jahrtausend vor Christus bestickten Menschen verschiedene Materialien. Heute wird das meist mit modernen elektronischen Stickmaschinen gemacht. Für diese ist proprietäre Steuersoftware erhältlich, wobei die einzelnen Hersteller meist ebenfalls proprietäre Dateiformate nutzen, die zueinander inkompatibel sind.

Die ursprüngliche Intention des Projekts habe darin bestanden, einen barrierefreien, experimentellen Zugang zu neuen Formen des textilen Gestaltens zu finden, sagt Andrea Mayr-Stalder. Doch die teuren proprietären Software-Applikationen stießen dabei schnell an ihre Grenzen.

Mayr-Stalder und Aschauer war außerdem ein pädagogischer Aspekt wichtig: Durch die gezielte Steuerung des Fadenlaufs einer Stickmaschine mithilfe eigenen Programmcodes der Anwender wollten die beiden Initiatoren auch gleich noch Programmierkenntnisse vermitteln. Damit wollten sie einen einfachen Zugang zur abstrakten Logik des Programmierens schaffen. Schließlich sind die Ergebnisse der individuell generierten Stickmuster sofort sichtbar.

Michael Aschauer entwickelte zunächst ein in Python geschriebenes und im Webbrowser ausgeführtes Zeichenwerkzeug. Mithilfe eines virtuellen Stiftes können damit im Browser Zeichnungen generiert werden. Am Bildschirm fungiert die Maus oder der Stift eines Grafiktabletts als Zeichenstift.

Die Ergebnisse können im EXP-Format abgespeichert werden. Dieses wird von zahlreichen Stickmaschinen unterstützt, so dass die auf einen USB-Stick transferierten und in die Stickmaschine geladenen EXP-Dateien ausgestickt werden können.

Stickmuster in Snap! programmieren

Das Werkzeug erhielt sukzessive auch einige Bearbeitungsfunktionen und kann auf der Webseite des Projekts kostenlos verwendet werden(öffnet im neuen Fenster) . Für Anwender, die keine eigene Stickmaschine haben, bietet das Projekt auch einen Service zum Aussticken der Muster an.

Da die webbasierte Software lediglich als freie Alternative zu vorhandenen kommerziellen Anwendungen betrachtet werden kann und ohne Programmierumgebung auskommt, entwickelte Michael Aschauer auf der Basis von Snap! eine ebenfalls webbasierte Programmierumgebung für Einsteiger, mit deren Hilfe Stickmuster durch das blockbasierte Programmieren in Snap! generiert werden(öffnet im neuen Fenster) .

Offlinemodus zum Beispiel für Schulen

Damit stellen die Initiatoren einen direkten Zusammenhang zwischen dem kreativen Gestalten und der abstrakten Logik des Programmierens her, wobei das Angebot dank des Einsatzes von Snap! niedrigschwellig ausfällt. Turtlestitch wird ebenfalls primär im Webbrowser ausgeführt, kann aber auch auf lokalen Computersystemen ohne Nutzung des Internets verwendet werden(öffnet im neuen Fenster) .

Dazu hat Michael Aschauer eine kurze Anleitung geschrieben und den Code der unter einer freien Lizenz stehenden Anwendung online publiziert(öffnet im neuen Fenster) . Der Offline-Einsatz ohne den für Stitchcode und Turtlestitch üblicherweise vorgesehenen Cloud-Modus eignet sich insbesondere für Bildungseinrichtungen wie allgemeinbildende Schulen mit begrenzten Internetkapazitäten, die deshalb lokal installierte Anwendungen präferieren.

Komplettes Ökosystem

Die in Turtlestitch generierten Dateien können entweder im EXP-Format oder im ebenfalls von einigen Stickmaschinen genutzten DST-Format gespeichert und in Stickmaschinen geladen werden. Außerdem können sie im SVG-Format zur weiteren Verarbeitung in Standardanwendungen gesichert werden.

Durch die Implementierung als webbasierte Anwendung und den Wegfall einer stationären Installation ist Turtlestitch auch im Offline-Modus plattformunabhängig nutzbar. Lediglich ein Webbrowser wird benötigt, der unter jedem gängigen Desktop-Betriebssystem verfügbar ist. Die Initiatoren empfehlen Firefox oder Chrome.

Doch Aschauer und Mayr-Stalder begnügen sich nicht mit der Entwicklung und Bereitstellung der Software, sondern bieten ein komplettes Ökosystem rund um das Projekt mit pädagogischen Materialien, audiovisuellen Anleitungen und vielen realen Objektideen. Letztere haben Anwender in der Cloud auf der Projektseite zur Verfügung gestellt.

Außerdem werden Workshops angeboten, als Präsenzveranstaltungen oder online. Die zahlreichen Materialien belegen eindrucksvoll die vielfältigen Möglichkeiten zum kreativen Gestalten, die die Software bietet. Anhand einer kleinen FAQ-Seite beantworten die Initiatoren zudem die wichtigsten Fragen rund um das Projekt und den Einstieg(öffnet im neuen Fenster) .

Förderungen und Preise

Das Turtlestitch-Projekt erhielt von Anbeginn an mehrere Förderungen und Preise für seinen innovativen Ansatz: So wurde die erste Variante im Jahr 2014 von Netidee(öffnet im neuen Fenster) gefördert, einer Stiftung der Internet Privatstiftung Austria.

Sie unterstützt seit 2006 besonders innovative Projekte in Österreich, die einen wesentlichen Beitrag zur Weiterentwicklung des Internets leisten. Außerdem erhielt das Projekt Zuwendungen vom Horizon-2020-Programm der Europäischen Union. Bei einer erfolgreichen Kickstarter-Kampagne warb das Projekt 2018 zudem über 15.000 Euro ein(öffnet im neuen Fenster) . Unterstützt wird Turtlestitch auch vom Wiener Verein Oseda(öffnet im neuen Fenster) , der sich der Förderung von Open-Source-Software in Lehre, Gestaltung und Kunst verschrieben hat.

In der Community

Turtlestitch hat sich in den letzten Jahren nicht nur wegen seines innovativen technischen Ansatzes und des niedrigschwelligen Einstiegs zu einem global anerkannten und höchst aktiven Community-Projekt gemausert, sondern erzielt auch die von Andrea Mayr-Stalder erhoffte pädagogische Wirkung: Mit Turtlestitch ist es gelungen, Menschen für kreatives Arbeiten und für das Programmieren zu interessieren, die sonst zu beiden Bereichen wenig Affinität zeigen.

So nehmen an den Workshops nicht nur Mädchen teil, sondern auch zahlreiche Jungen im Teenager-Alter, und der Teilnehmerkreis ist längst nicht nur auf Schüler beschränkt. Auch Erwachsene bis ins Rentenalter entwerfen und programmieren mit Turtlestitch ihre eigenen Kunstwerke, so dass wirklich viele Bevölkerungsgruppen aktiv mitwirken.

Den Initiatoren ist es somit gelungen, Kunst, Kultur und Wissensvermittlung unter einen Hut zu bringen und dadurch global Aufmerksamkeit zu erregen: Das Projekt findet nicht nur in Europa, sondern auch jenseits des Atlantiks und sogar in Asien Interessenten. Turtlestitch gehört inzwischen in zahlreichen Schulen zum festen Bestandteil des Unterrichts.

10. Jubiläum

Angesichts dieses globalen Erfolges findet vom 18. bis 20. Juli in Tilburg in den Niederlanden das Turtlestitch 10 Fest statt. Es ist als Treffpunkt der globalen Turtlestitch-Community konzipiert, wobei Interessierte ebenso eingeladen sind wie Künstler und Menschen aus der Community(öffnet im neuen Fenster) .

Die Veranstaltung findet in ehemaligen Lokomotivschuppen statt, die inzwischen zu einem Kulturzentrum ausgebaut wurden. Sie befinden sich in zentraler Lage in unmittelbarer Nähe des Tilburger Hauptbahnhofs, so dass eine problemlose und klimaschonende Anreise mit öffentlichen Verkehrsmitteln möglich ist.

Für das Turtlestitch 10 Fest planen die Veranstalter zahlreiche verschiedene Workshops. So wird während der drei Tage ein fortlaufender Kurs für Anfänger angeboten. Darüber hinaus sollen Themen wie KI-unterstütztes Design und experimentelle Methoden des Stickens mit Turtlestitch diskutiert werden. Auch über zukünftige Organisationsformen wollen die Veranstalter mit den Teilnehmern sprechen. In insgesamt zwei Auditorien der LocHal finden dazu vom 18. bis 20. Juli Diskussionen und Vorträge statt, in fünf weiteren Arbeitsräumen werden Workshops angeboten.

Die Daten zur Veranstaltung

Auf der Veranstaltungsseite im Internet werden zudem einige Teilnehmer vorgestellt, die Turtlestitch und Stitchcode verwenden. Dabei handelt es sich nicht nur um Grafiker, Designer oder andere Personen aus dem künstlerischen Umfeld; mit dabei sind auch zahlreiche Lehrkräfte und Wissenschaftler, die sich mit dem Gestalten von Medien, dem Einstieg in das Programmieren und frühkindlicher Bildung beschäftigen.

Die Veranstalter freuen sich über eine rege Teilnahme und einen fruchtbaren Gedankenaustausch.

Veranstaltungsdaten: Turtlestitch 10 Fest, 18. bis 20. Juli 2025, LocHal Tilburg (Niederlande); mehr Infos gibt es hier(öffnet im neuen Fenster) .


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