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Interview: "Daten brauchen ein Verfallsdatum"

Golem.de im Gespräch mit Harvard-Professor Viktor Mayer-Schönberger. Sind Daten einmal im Internet gelandet, ist es schwierig, sie wieder zu entfernen. Erinnerung, kritisiert Viktor Mayer-Schönberger, ist im digitalen Zeitalter die Regel und das Vergessen die Ausnahme. Er fordert deshalb die Einrichtung von Verfallsdaten an Informationen. Warum digitales Vergessen so wichtig ist und wo Gefahren im Internet lauern, erklärt Mayer-Schönberger im Gespräch mit Golem.de.
/ Werner Pluta
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Viktor Mayer-Schönberger ist Professor für Politologie an der Harvard Universität. In seiner Forschungsarbeit beschäftigt er sich mit den politischen, rechtlichen und wirtschaftlichen Dimensionen der Kommunikationsnetze.

Hier war ein Flashplayer. Dieser wird von Browsern nicht mehr unterstützt. Die Mediendatei ist aber noch vorhanden. Audio: Viktor Mayer-Schönberger über digitales Vergessen(öffnet im neuen Fenster)

Golem.de: Herr Mayer-Schönberger, es gibt Menschen, die halten das Erinnern hoch. Sie hingegen fordern ein Verfallsdatum für digitale Daten, damit das Internet vergisst. Weshalb?

Mayer-Schönberger: Ich setze mich für das digitale Vergessen ein, weil wir in der analogen Welt in der Regel vergessen und uns nur im Ausnahmefall erinnern. Wenn wir gesellschaftlich oder individuell etwas für wichtig halten, dann erinnern wir uns auch daran. Wir halten es in unseren Köpfen, aber auch extern fest. Aber dazu bedarf es eines aktiven und bewussten Aktes.

Das ist das Entscheidende. Dass ich mich bewusst erinnere, mir bewusst etwas merke. Wogegen ich mich aber sträube, ist, dass sich der Standard im digitalen Zeitalter verändert hat: Heute erinnern wir uns automatisch, das Vergessen erfordert einen aktiven Akt. Und genau das möchte ich wieder zurechtbiegen.

Golem.de: Was gibt es für so ein Vorhaben zu beachten? Technisch zum Beispiel, oder rechtlich.

Mayer-Schönberger: Ich schlage vor, dass das Ablauf- oder Verfallsdatum einer Information als Metainformation mit gespeichert wird. Ist dieses Datum gekommen, wird die Information von der Applikation oder vom Betriebssystem gelöscht.

Die Leute, mit denen ich über meinen Vorschlag gesprochen habe, haben kritisiert, ich habe eine technische Lösung vorgeschlagen, die nicht perfekt ist. Aber mir geht es nicht um technische Perfektion. Ich will bestimmt kein DRM-System für das Vergessen, wie es Lawrence Lessig vorschlägt. Ich will die Nutzer ständig mit der Frage konfrontieren, wie lange sie Informationen aufbewahren wollen. Diese ständige Konfrontation führt dazu, dass wir Menschen mit der Zeit wieder verstehen, dass Information ein Ablaufdatum hat, dass sie nicht permanent gültig ist, sondern über die Zeit ihren Wert verliert.

Golem.de: Wie könnte man das implementieren und durchsetzen?

Mayer-Schönberger: Die Implementierung ist relativ einfach: Das Verfallsdatum ist nur eine weitere Kategorie, die zu den bestehenden Metadaten hinzukommt. Alle modernen Betriebs- und Dateisysteme verstehen sich auf Metadaten und können eine weitere Kategorie ohne weiteres aufnehmen. Man könnte es rechtlich verankern, dass Softwarehersteller diese zusätzlichen Metadaten hinzufügen müssen. Das wäre relativ einfach durchzusetzen: Auch aus anderen Bereichen kennen wir die Notwendigkeit, dass Software bestimmte Standards erfüllen muss.

Golem.de: Und wer bestimmt die Dauer?

Mayer-Schönberger: Jeder, der darüber die Kontrolle hat. Die Frage geht aber eigentlich schon zu weit. Mein Konzept ist nicht ein perfektes System von Verfügungsrechten über Information - also Zerstörungs- oder Vergessensrechten. Das will ich gar nicht leisten. Mein Punkt ist: Wenn wir die Menschen dazu zwingen, Ablaufdaten für Informationen, die sie speichern wollen, festzulegen, dann fördern wir die Erkenntnis, dass Information endlich ist. Das reicht mir.

Golem.de: Manche Anbieter haben aber ein Interesse daran, die Daten ihrer Nutzer möglichst lange zu speichern. Wie wollen Sie die dazu bringen, dass sie dabei mitspielen?

Mayer-Schönberger: Es ist nichts dagegen einzuwenden, wenn ein Nutzer, der bei Google eine Suchanfrage stellt und, wenn er gefragt wird, wie lange diese Suchanfrage im Google-Gedächtnis gespeichert werden solle, 99 Jahre angibt. Dann soll diese Anfrage eben 99 Jahre gespeichert werden. Aber er soll das Ablaufdatum bestimmen und nicht Google.

Golem.de: Welche Daten sollen denn überhaupt mit einem Verfallsdatum versehen werden?

Mayer-Schönberger: Alle.

Golem.de: Also nicht nur die im Internet oder speziell in Social Networks?

Mayer-Schönberger: Genau. Ein Beispiel, das ich immer wieder gern verwende, sind Digitalfotos. Auch die können mit einem Ablaufdatum versehen werden. Die Fotos, die uns besonders gut gefallen, bekommen dann eben ein Ablaufdatum von 99 Jahren oder noch länger. Die anderen, die auf unseren Festplatten herumliegen, weil wir zu faul zum Löschen waren, könnten nach ein paar Jahren gelöscht werden. Wenn der 27. unscharfe Sonnenuntergang verschwindet, ist das kein Verlust.

Golem.de: Sie wollen also, dass auch die Daten auf der Festplatte verfallen.

Mayer-Schönberger: Ja, ich plädiere für eine Informationsökologie. Das gilt auch für Word-Dokumente. Wenn ich zum Beispiel einen Text schreibe, speichere ich ihn als Dokument ab. Ändere ich den Text, speichere ich diese Version unter einem anderen Namen und so weiter. Es ist aber unwahrscheinlich, dass ich die alten Versionen nach Fertigstellung nochmals brauche. Ich bewahre sie aber zur Sicherheit trotzdem auf - es kostet ja nichts. Ich könnte die vorläufigen Versionen aber ebenso gut mit einem Ablaufdatum von sagen wir 2 Jahren versehen. Die Endfassung eines Textes kann ich ja länger aufbewahren.

Entwürfe von Briefen aufzubewahren, die nie abgeschickt worden sind, ist in der Regel sinn- und nutzlos. Das bewusste Löschen dieser Informationen hingegen bedeutet, zu verstehen, dass es wichtig ist, Informationen loszulassen und sich klarzumachen, dass sie für das Hier und Jetzt keine Relevanz mehr haben.

Es ist, als sehe man seinen Kleiderschrank durch, um alle Kleidungsstücke wegzuwerfen, die man in den letzten drei Jahren nicht mehr getragen hat. Wenn man das macht, fällt einem auf, dass einem die weggeworfenen Stücke gar nicht fehlen. Das gilt auch für Informationen.

Golem.de: Informationsökologie ist aber nur ein Punkt. Ein anderer ist der allzu sorglose Umgang mit Daten. Nutzer geben ihre Daten im Internet preis, und wenn diese einmal online sind, lassen sie sich kaum wieder zurücknehmen.

Mayer-Schönberger: Der sorglose Umgang entsteht in erster Linie aus der bestehenden Intransparenz und dem verbreiteten Unwissen, wie viele Daten im Internet und anderswo schon aufbewahrt, indiziert, verwertet und eben nicht vergessen werden. Wenn ich Menschen damit konfrontiere, dass etwa Flugreservierungssyteme Reservierungen auch nach dem Abflugdatum gespeichert halten, sogar dann, wenn man gar kein Ticket bestellt und gekauft hat, dann sind sie erschüttert. Aber das passiert jeden Tag hundertausende Male. Die Datenmengen sind riesengroß, und sie werden nicht nur von den Reservierungssystemen verwendet und zu Marketingzwecken herangezogen, sondern auch staatlichen Stellen zugänglich gemacht.

Golem.de: Die haben aber doch bestimmt kein Interesse daran, dass Daten nach einer bestimmten Zeit wieder verschwinden.

Mayer-Schönberger: Oberflächlich gesehen hat der Staat nur ein geringes Interesse daran, dass diese Daten gelöscht werden. Das wiederum sollte ein ganz besonders großes Interesse bei den Bürgern an Datenlöschung auslösen, denn das stellt die Machtbalance zwischen Staat und Bürgern wieder richtig. In dem Maße, in dem die vorhandenen Daten vermindert werden, wird die informationelle Übermacht des Staates vermindert.

In Wirklichkeit ist es aber auch für den Staat selbst besser, wenn es weniger Daten gibt. Im Fall eines Angriffs auf die demokratischen Grundfesten können Daten schnell zum Problem werden. Ein Beispiel aus der Geschichte: Als die Niederlande in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts eine Sozialgesetzgebung eingeführt haben, wurde ein Bevölkerungsregister eingerichtet, in dem alle möglichen Informationen über die Bürger erfasst wurden, auch die Religion. Als die Nationalsozialisten die Niederlande besetzten, nutzten sie dieses Register, um die jüdische niederländische Bevölkerung herauszufiltern. Das führte dazu, dass die Ermordungsquote unter den niederländischen Juden die höchste in Europa war.

Solche Datensammlungen sind also nur dann eine Wohltat, wenn ich den Zugang in einer demokratischen Grundordnung kontrolliere. Da wir aber nicht garantieren können, dass wir in alle Zukunft eine demokratische Grundordnung haben, sind wir jetzt schon gut beraten, Informationsschätze zu minimieren, damit sie im Fall eines Falles nicht wie in den Niederlanden missbraucht werden können. Es ist die Aufgabe eines Staates, auch an eine unklare Zukunft zu denken und vorzubeugen.

Golem.de: Was ist mit Renten- oder Meldeinformationen?

Mayer-Schönberger: Die Speicherung jeder Information möchte ich auf ihre Notwendigkeit hinterfragen.

Golem.de: Und mit einem Verfallsdatum versehen?

Mayer-Schönberger: Ja - und wenn möglich löschen. Das ist im Übrigen auch nichts Neues: Die ersten Datenschutzgesetze, das hessische aus dem Jahr 1972 zum Beispiel, ordneten an, dass Daten, die nicht mehr gebraucht werden, gelöscht werden.

Golem.de: Datenschutz ist ein gutes Stichwort. Viele Nutzer gehen ja viel zu sorglos mit ihren Daten um, geben viel zu viel über sich im Internet preis. Brauchen wir denn eine neue Medienkompetenz für das Internet?

Mayer-Schönberger: Das ist ein zentrales Element. Das von mir geforderte Ablaufdatum soll die Menschen ständig mit dieser Fragestellung konfrontieren. Das regt an, darüber nachzudenken, welche Daten ein Anbieter warum speichern will.

Dann können wir die Datensammlungen auch zielgerichteter angehen, bei Google etwa. Wenn mich ein Bekannter fragt: "Weißt Du noch, welchen Wodka wir neulich getrunken haben?", und ich suche bei Google danach, dann möchte ich nicht, dass Google diese Suche speichert. Denn sie ist für meine normale Suchstrategie völlig irrelevant. Selbst wenn ich also bewusst zustimme, dass alle meine Suchanfragen gespeichert bleiben, um die Ergebnisse zu verbessern, möchte ich gerade diese Anfrage nicht in der Historie meiner Anfragen sehen, weil sie das Ergebnis verfälscht. Mir als User also die Möglichkeit zu geben, diese bestimmte Anfrage zu löschen, hilft Google sogar, bessere Ergebnisse zu liefern. Insofern ist es falsch, zu glauben, dass die Macht des Einzelnen über seine Daten gleichzeitig eine Ohnmacht des Datenverarbeiters bedeutet.

Golem.de: Wer soll diese Medienkompetenz vermitteln?

Mayer-Schönberger: Sie, die Medien!

Golem.de: Wir?

Mayer-Schönberger: Ja. Diese muss über den öffentlichen Diskurs hergestellt werden. Die Nutzung von Google ist eine Kulturtechnik, und die richtige Verwendung einer Kulturtechnik ist eine Erziehungs- und Bildungsaufgabe, die im öffentlichen Diskurs durchgegangen werden muss.

Golem.de: Was ist mit Schulen und Universitäten?

Mayer-Schönberger: Die sind zweifellos auch gefragt. Aber wir leben in einem Zeitalter, in dem wir Bildung und Ausbildung nicht auf die Zeit zwischen 6 und 24 Jahren beschränken können. Denn das würde bedeuten, dass wir mit 25 Jahren bereits alles gelernt haben - und das stimmt natürlich nicht, gerade bei der Medienkompetenz.

Golem.de: Wie sieht es mit Gefahren aus? Was kann Nutzern passieren, die allzu sorglos ihre Daten im Internet preisgeben?

Mayer-Schönberger: Ich verdeutliche das immer gern am Beispiel einer amerikanischen Lehrerin, die ein Foto auf ihrer MySpace-Seite veröffentlicht hatte, das sie möglicherweise betrunken zeigte. Sie bekam keine Lehrbefugnis, weil die Universität ihr Benehmen für unmoralisch hielt. Dann gibt es den Fall eines angesehenen kanadischen Psychotherapeuten, der vor einigen Jahren in einem wissenschaftlichen Artikel zugab, in den 60er-Jahren einmal LSD probiert zu haben. Bei der Einreise in die USA wurde er gestoppt, und einer der Grenzbeamten suchte bei Google nach ihm. Er fand den Artikel und fragte den Therapeuten, ob die Aussage stimme. Er bejahte. Der Grenzbeamte sagte daraufhin, das sei ein Verstoß gegen bestehende Gesetze. Bei der letzten Einreise habe der Therapeut aber angegeben, nie gegen Gesetze verstoßen zu haben. Der Kanadier wurde daraufhin zurückgewiesen und darf nur noch mit einer Sondergenehmigung in die USA einreisen. Das ist zwar absurd, aber das amerikanische Konsulat hat das bestätigt.

Grenzbeamte in den USA nutzen Google immer häufiger auf der Suche nach Informationen über Einreisende. Bedenkt man zudem die Tatsache, dass viele Informationen im Internet nicht stimmen oder nicht mehr aktuell sind, dann haben wir das Problem plastisch vor uns.

Golem.de: Zumal es schwierig ist, Daten aus dem Internet wieder zurückzuziehen.

Mayer-Schönberger: Das war auch das Problem der Lehrerin. Sie hatte überlegt, das Foto aus dem Netz zu nehmen. Aber wenn die Daten bereits im Google Cache oder im Internet-Archive erfasst sind, dann ist das gar nicht mehr so einfach. Auch wenn ich Daten selbst ins Internet gestellt habe, kann ich sie nicht mehr herausnehmen. Das ist eine seltsame Situation: Ich kann Informationen zwar hergeben, aber ich kann sie nicht mehr zurücknehmen, weil ich nicht weiß, wo sie schon überall sind.

Golem.de: Auch im analogen Zeitalter wurden ja Daten für alle Zeiten gespeichert und stellen heute beispielsweise ein wichtiges Instrument für Forscher dar. Worin unterscheiden sich denn analoge von digitalen Daten? Gibt es qualitative Unterschiede?

Mayer-Schönberger: Ich bin nicht gegen Archive. Wenn wir als Gesellschaft oder als Einzelperson entscheiden, etwas für lange Zeit oder für immer aufzubewahren, ist dagegen nichts einzuwenden. Ich habe nur primär etwas dagegen, dass wir per Default und ohne die Menschen mit der Frage zu konfrontieren, Informationen aufbewahren.

Aber zum Unterschied zwischen digital und analog: Im digitalen Zeitalter können wir enorme Datenmengen sehr günstig speichern. Die Speicherkosten sind ja sehr gesunken. Eine konventionelle Bibliothek hatte nur beschränkten Platz und musste deshalb jedes Jahr Bücher aussortieren. In der digitalen Welt gibt es so eine Beschränkung nicht. Dann ist der Abruf von Informationen durch Volltext-Indizierung wesentlich einfacher und schneller geworden. Wenn man in einer Bibliothek etwas sucht, muss man erst über den Katalog ein Buch finden und dann über das Stichwortverzeichnis im Buch die Information. Die Information ist also nicht sehr transparent. Das trifft auf digitalisierte und indizierte Informationen nicht zu. Drittens ist der Zugang über das Internet einfacher, man muss nicht mehr vor Ort sein. Diese Merkmale zusammengenommen, machen eine andere Qualität aus.

Golem.de: Es gibt Leute, wie etwa den Internetarchivar Brewster Kahle , die sich Gedanken darüber machen, wie man digitale Informationen dauerhaft speichern kann, damit sie nicht flüchtig sind und damit unser Zeitalter kein dunkles Zeitalter ohne Aufzeichnungen wird. Sie hingegen wollen die Daten noch flüchtiger machen.

Mayer-Schönberger: Nur dort, wo die Nutzer sie flüchtiger machen wollen. Brewster Kahle ist ein begnadeter Archivar, und als solcher muss er natürlich bestrebt sein, alle Informationen festzuhalten und aufzubewahren. Aber über die Menschheitsgeschichte gesehen haben wir immer nur einen Bruchteil der Informationen jedes Abschnittes aufbewahrt. Das Meiste ist in Vergessenheit geraten. Aus verschiedenen Gründen ist das auch ganz gut so.

Das Internet-Archive geht aber immerhin so weit, dass es Daten aus seinen Beständen löscht, die Betroffene löschen wollen. Es macht also seine Aktivitäten transparent und kommt den Menschen entgegen. Das finde ich gut. Mir wäre es aber lieber, wenn wir aktiv entscheiden könnten, dass unsere Daten im Internet-Archive gesammelt werden. Etwa über einen Snapshot-Button: Wenn ich darauf klicke, wird meine Website archiviert. Dann kann ich selbst bestimmen, wie oft meine Seite gespeichert wird. Es ist ein bewusster Akt von mir und nicht der Crawler des Internet-Archive, der meine Seite speichert.

Golem.de: Ihr Anliegen ist also, dass die Nutzer mit ihren Daten bewusst umgehen.

Mayer-Schönberger: Ja. Sie sollen bewusst damit umgehen, sich bewusst erinnern - und im Zweifel vergessen.


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