Schaar: Wir brauchen eine Ethik der Informationsgesellschaft
"Lernprozesse sind mühsam, wenn man schon etwas älter ist" , sagte Schaar, "aber auch einem älter werdenden politischen System sollte man sie nicht ersparen." Er betonte, nicht der Ansicht zu sein, Deutschland habe sich zu einem Überwachungsstaat entwickelt. Wir bewegten uns aber hin zu einer Überwachungsgesellschaft, in der technologische Entwicklungen dazu führten, dass wir es nicht mit einem identifizierbaren Bösen zu tun hätten, sondern mit zahlreichen Faktoren, die die Kontrolle über Datenflüsse immer schwieriger machten. So werde bei der CeBIT in Kürze viel von "Virtualisierung" von Computeranwendungen die Rede sein. Dabei sei es immer schwerer zu erkennen, ob Daten "auf dem eigenen Rechner verarbeitet werden oder in Schanghai" , beschrieb Schaar die damit verbundenen Probleme.
Insgesamt tendierten wirtschaftliche, aber auch politische Triebfedern aus verschiedenen Gründen dazu, immer mehr an Überwachung zu installieren. Das könne die Überwachung von Geschäftsprozessen sein, so Schaar, aber auch der "Kampf gegen den internationalen Terrorismus - da frage ich: wo ist eine Gegenstrategie?" Sie könne nur in einer "Ethik der Informationsgesellschaft" liegen: "Wir müssen Wertentscheidungen treffen über die Frage, was dürfen, was wollen wir machen?" Das sei überhaupt keine neue Fragestellung, denn der Atombombe oder der Gentechnologie werde sie bereits seit langer Zeit gestellt, aber eben viel zu selten bei Debatten um Informationstechnologie.
Dabei seien die Eckpunkte durchaus festgelegt: der absolute Schutz des Kernbereichs privater Lebensgestaltung, der im Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Lauschangriff festgelegt wurde, oder durch die Einschränkungen, nicht in jeder Breite Daten erheben und auswerten zu dürfen, was dem Urteil zur Rasterfahndung zu entnehmen sei.
"Sowohl im Recht als auch in der Technik müssen wir Konsequenzen ziehen und uns fragen, ob Entscheidungen gerechtfertigt sind - egal, wie gut sie wirtschaftlich, sozialpolitisch oder anders begründbar sind -, oder ob sie zurückgefahren werden sollten" , forderte Schaar. Deutschland habe die Gelegenheit, darüber zu reden, wie einen Gesellschaft aussehen sollte, und ob wir nicht zu weit gehen, denn "wir leben nicht in einem totalitären Überwachungsstaat, denn der braucht keine und muss auch kein Verfassungsgericht fürchten."
Dass die Sensibilität der Bürger zu diesem Thema durchaus vorhanden sei, erkenne er daran, dass sich immer mehr Menschen über Datenschutzverstöße beschweren, berichtete Schaar aus der Praxis. In den letzten zwei Jahren habe sich die Zahl der Eingaben von Bürgern beim Bundesbeauftragten verdoppelt. "Das Bewusstsein dafür, dass man nicht einfach alles fraglos hinnimmt" , sagte Schaar, er erkenne das auch am medialen Echo, denn auch Medien interessierten sich zunehmend dafür, wo in bestimmten Situationen der Datenschutz bleibe, etwa beim Einsatz von RFID oder VoIP.
Hart ins Gericht ging Schaar mit den Regierungen von Bund und Ländern. Als das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Lauschangriff gefallen war, hätten Politiker in erster Linie versucht, die Wirkung dieser Entscheidung einzugrenzen. "Es gehe dabei nicht um Telekommunikationsüberwachung, dazu habe das Gericht nichts gesagt" , paraphrasierte Schaar die Aussagen zum Urteil, außerdem gelte es nur, wenn es um Strafverfolgung gehe, nicht dann, wenn es darum gehe, Straftaten zu verhindern. Diese Strategie, immer nur abwehrend auf Datenschutzbelange zu reagieren, sei aber eine völlig falsche Herangehensweise: "Sie berücksichtigt nicht die Interessen von Bürgern in einer Informationsgesellschaft, in der immer mehr Informationen über Bürger anfallen."
Dementsprechend enttäuscht zeigte sich Schaar vom Entschluss des Bundesrates vom vergangenen Freitag, in dem die Länderkammer gerade den Teil des Gesetzesentwurfs der Bundesregierung kritisiert hatte. Nach dem Regierungsentwurf sollen Rechteinhaber nicht einfach Zugriff auf die Daten von Internetnutzern erhalten, denen sie Urheberrechtsverstöße vorwerfen. Der Bundesrat will Rechteinhabern diese Möglichkeit einräumen. "Die Regelungen zur Vorratsdatenspeicherung sind ein Dammbruch zu Lasten des Datenschutzes" , sagte Schaar, "und wenn es so weitergeht, werden Daten, die zur Bekämpfung des internationalen Terrorismus gesammelt werden, demnächst eingesetzt, um Jugendliche in Tauschbörsen zu verfolgen." Er nenne das die "Ölfleck-Theorie" : Eine Maßnahme breite sich immer weiter in alle Richtungen aus.
Auch an der Online-Duchsuchung von PCs ließ Schaar kein gutes Haar. "Bei den Daten, die heute auf Computern gespeichert sind, betrifft das den Kernbereich der Privatsphäre wie der Lauschangriff." Noch dazu basierten alle Theorien darauf, wie diese Überwachung in der Praxis umzusetzen sei, Sicherheitslücken auszunutzen. Das setze ein völlig falsches Signal. Nutzer würden dann kein Interesse mehr haben, Sicherheitsupdates zu machen, weil sie den Anbietern nicht mehr vertrauen. "Wenn das Bundesamt für die Sicherheit in der Informationstechnologie in Zukunft Sicherheitsupdates anbietet, sind die vielleicht nicht mehr so beliebt" , so Schaar. Sein Fazit: "Dem Nutzer wird suggeriert: Die Behörden können überall eindringen. Aber was ist dann mit den Bösen? Sind die wirklich so viel blöder? Diese Strategie unterhöhlt das Vertrauen in E-Government, E-Commerce und vieles mehr." Außerdem sei es eine zweifelhafte Botschaft, die sagt, "nur wenn wir unter Kontrolle sind, verhalten wir uns rechtskonform. Ist es nicht das generalisierte Misstrauen, das gefördert wird durch immer stärkere Überwachungsmaßnahmen, das uns nicht als verantwortungsbewusste Bürger sieht?" , fragte Schaar. [von Matthias Spielkamp]



