WOS4: Wiki ade?
Die Runde, die sich um 13 Uhr im Columbia-Club in Berlin traf, um über Qualitätssicherung bei der Produktion freier Inhalte nach dem Open-Source-Modell zu reden, war hochkarätig besetzt: Als Vertreter der in kürzester Zeit zu wissenschaftlichem Ruhm gekommenenen Open-Access-Zeitschrift "Atmospheric Chemistry and Physics" (ACP) war Ulrich Pöschl von der European Geosciences Union (EGU) und dem Max-Planck-Institut für Chemie (MPIC) dabei; Martin Haase, Sprachwissenschaftler an der Universität Bamberg, vertrat die Wikimedia Deutschland, in deren Vorstand er Mitglied ist; Larry Sanger, Organisator aus den Frühzeiten der Wikipedia und jetzt für die Digital Universe Foundation tätig, war der dritte Redner. Die Podiumsleitung lag bei WOS-Organisator Volker Grassmuck von der Humboldt-Universität Berlin.
Ulrich Pöschl präsentierte die Erfolgsgeschichte von ACP. Die wissenschaftliche Fachzeitschrift gehört heute zu den wichtigsten auf ihrem Gebiet. Möglich wurde das durch die Kombination aus "Open-Access-Publikation" und einem ausgefeilten Redaktionsprozess, der das Beste aus beiden Welten - traditionelle Fachpublikation und Open-Source-Methoden - in sich vereint. Der "interaktive, offene Publikationsprozess" von ACP setzt auf ein zweistufiges Review-System, an dem sich ausschließlich registrierte Wissenschaftler beteiligen können. Während klassische "Peer Reviewer" - wahlweise anonym - zur Veröffentlichung eingereichte Beiträge begutachten, würden die Kommentatoren eine offene Diskussion führen. Der Erfolg gibt den Machern recht: Anders als viele andere Fachzeitschriften habe man nicht mit einem "Mangel an Gutachtern zu kämpfen", ganz im Gegenteil. Seine Vision beschreibt Ulrich Pöschl so: "Besserer Zugang für alle zu qualitativ hochwertigen Publikationen, bessere Informationen und ein transparenter, rationaler Prozess für wissenschaftliche Publikationen." Wenn es gelinge, dann hätte man ein beispielhaftes "Modell für politische Entscheidungsprozesse" geschaffen.
Martin Haase vom deutschen Wikipedia e.V. stellte Pläne zur Qualitätsverbesserung von Wikipedia-Artikeln vor. Viele seiner Vorschläge griffen implizit Argumente seines Vorredners auf. So soll die Möglichkeit zur anonymen Bearbeitung von Artikeln eingeschränkt werden, bis hin zu stabilen Versionen von Beiträgen. Es wird in Zukunft die Möglichkeit geben, die Autoren von Textabschnitten namentlich kenntlich zu machen ("attribution"). Bereits bekannt sei die Kategorisierung von Artikeln in "normale Artikel", "gute Artikel" und "exzellente Artikel", die dem Leser die unterschiedlichen Qualitäten signalisieren sollen. Auch ein Begutachtungsprozess, ähnlich wie bei klassischen Wissenschaftspublikationen, sei eine Option für die Zukunft. Ein praktisches Problem sei allerdings, so Martin Haase, der Mangel an geeigneten Fachleuten.
Larry Sanger sorgte mit seiner Ankündigung eines Alternativprojekts zu Wikipedia auf der Basis der Wikipedia für gespannte Zuhörer. Dass er weiß, wovon er redet, ist dem Publikum bewusst. Schließlich war Larry Sanger mitverantwortlich für die Organisation der freien Enzyklopädie Wikipedia in ihrem ersten Jahr.
Ausführlich begründete er die Motive, die ihn zum angekündigten "Fork", wie eine solche Abspaltung in der Open-Source-Community genannt wird, bewegt haben. Die Wikipedia-Community, so sein Fazit, sei "unreif" und auf Grund der Architektur des Systems - alle können alle Artikel anonym bearbeiten - auch kaum in der Lage, ihre Unreife zu überwinden. Die existierende Community ist nicht willens oder in der Lage, die eigenen Regeln durchzusetzen. Es hätten sich regelrecht "konservative Verhältnisse" herausgebildet, die es neu Hinzugekommenen schwer machen würden, sich einzubringen. Akademiker fühlten sich deshalb abgestoßen.
Um die strukturellen Probleme zu überwinden, müsse ein deutlich überarbeiteter Redaktionsmechanismus her, der eben einen Fork notwendig mache. Das neue System werde sich im Hinblick auf Rollen und Offenheit deutlich von Wikipedia unterscheiden. So sei vorgesehen, dass Autoren ihre Namen und eine korrekte E-Mail-Adresse angeben müssen. Hinzu kämen verbindliche Regeln, die durch "Wächter" durchgesetzt werden sollen - wer dagegen verstößt, "wird entfernt" . Das Ganze soll dann ein "Citizen's Compendium" werden - das "Citizendium". Die Beta-Version soll Ende September starten. Ob dem Projekt Erfolg beschieden sein wird, bleibt abzuwarten.
Am Ende der Veranstaltung scheint es einen gemeinsamen Nenner zu geben: Ein völlig offenes Wiki ist kein geeignetes System, um qualitativ hochwertige, verlässliche Inhalte zu produzieren. Auch die Wissensgesellschaft braucht Regeln, die durchgesetzt werden müssen. Das heißt dann wohl: Wiki ade! [von Robert A. Gehring]



